Letzter Ausweg Liebe
In der Diskussion über aktive Sterbehilfe will die Kirche keine schärferen Gesetze – sondern schärfere Gewissen. Denn im tiefsten Leid kann nur eines helfen: Barmherzigkeit.Plötzlich standen die letzten, ganz großen Fragen mitten im Plenum der Berliner Republik. Die Abgeordneten des Bundestages erzählten sich vergangene Woche gegenseitig ihre Erfahrungen mit dem Sterben. Was sie entscheiden müssen: Dürfen schwerstkranke Menschen künftig Beihilfe beim Suizid durch Ärzte oder Vereine erhalten? 70 Prozent der Deutschen wünschen sich das – in Ostdeutschland gar 82 Prozent. Kirchen und die meisten Politiker aber sehen dies ganz anders.
Befürworter und Gegner argumentieren mit dem gleichen Wort: Würde. Sie verwenden es nur grundverschieden. In der Debatte um aktive Sterbehilfe spiegelt sich das Selbstbild einer Leistungsgesellschaft. Würde ist in ihr, nicht abhängig zu sein, niemandem zur Last zu werden, selbst zu bestimmen. Würde ist etwas Selbstgemachtes.
Ein Leben angewiesen auf Familie oder Pfleger, der Verstand von Demenz umwölkt? »Ein solcher Zustand«, schrieb der frühere MDR-Intendant Udo Reiter vor wenigen Wochen in seinem Abschiedsbrief, und sehr viele werden ihm zustimmen, »entspricht nicht meinem Bild von mir selbst.«
Auch die Bibel sucht die Würde im Bild vom Menschen – nur nicht in dem, das er selbst von sich hat. Sondern im Bild, das sich Gott von ihm macht. »Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde«, heißt es ganz am Anfang der Bibel. Gott spiegelt sich im Pfleger und Patienten, im Manager und Dementen, im Leitenden und Leidenden. Diese Würde hat jeder, immer. Das deutsche Grundgesetz sieht es übrigens genauso. »Wir verstehen das Leben als unverfügbares Geschenk«, so begründet der sächsische Landesbischof Jochen Bohl theologisch die Forderung der Kirchen an die Politik, Sterbehilfe-Vereine künftig zu verbieten. Darüber hinaus aber möchte der stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende keine weiteren Gesetzesverschärfungen.
»Jeder Mensch, der am Leben verzweifelt, sollte einen barmherzigen Mitmenschen finden«, sagt Sachsens Landesbischof. Auch die Kirche sollte mit dem Wunsch nach Suizid barmherziger umgehen als in ihrer Vergangenheit, denn er sei Ausdruck tiefster Verzweiflung. »Und wenn es in wenigen Einzelfällen Situationen gibt, in denen auch Palliativmedizin nicht helfen kann, wird man darauf vertrauen können, dass der behandelnde Arzt eine Gewissensentscheidung trifft. Vor das Gewissen gehört eine solche Entscheidung auch hin, und nicht vor Gericht.«
Andererseits sind nicht nur die Kirchen in tiefer Sorge: Wird eine Lockerung des Sterbehilfe-Verbotes Druck auf Alte und Kranke machen, sich zum Wohle von Familie und Gesellschaft ins Jenseits befördern zu lassen? Der Pflegenotstand kündigt sich ja schon an – und auch seine Versuchungen.
Es ist eine tragische Wendung, dass ausgerechnet mitten in der Sterbehilfe-Debatte der bisher oberste Repräsentant der evangelischen Kirche das schmerzlich Schillernde dieser Frage am eigenen Leib erfahren musste. Nikolaus Schneider vertrat als EKD-Ratsvorsitzender theologisch mit Überzeugung das Nein seiner Kirche – und sagte doch Ja zu seiner krebskranken Frau, als sie ihn fragte, ob er sie auf dem Weg der aktiven Sterbehilfe begleiten würde. Aus Liebe.
So wie auch Pflege bis zum Schluss in Familien, Krankenhäusern und Hospizen oft eine Tat der Liebe ist.
»Wir können gerechtfertigt und befreit, geliebt und angenommen dieses Leben loslassen, weil der Auferstandene uns entgegenkommt«, hatte Nikolaus Schneider der EKD-Synode in Dresden vor wenigen Tagen zum Abschied gesagt. Diese Botschaft sei für ihn die entscheidende Sterbehilfe der Kirche. Es ist ein Satz, der vielleicht auch jene trösten kann, die keinen Ausweg mehr sehen als den Tod.
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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