So geht Frieden
Ohne Gewalt: Alle reden vom Militär, Waffenexporte haben Hochkonjunktur. Da bleiben die Friedensfachkräfte oft unbeachtet. Mit bescheidenen Mitteln entschärfen sie weltweit Krisen und tragen zu friedlichen Konfliktlösungen bei. Sie sind heute wichtiger denn je. Drei Beispiele.Friedensstimme per Radio: Jehan Usop, Jehan Usop (Foto: ForumZFD)
Diesen Abend in ihrer Kindheit vergisst sie in ihrem Leben nicht. Sie übernachtete in einer dieser einfachen Hütten auf der Insel Mindanao im Süden der Philippinen bei ihren Großeltern. Neben der Eingangstür hatte sie sich ihr Bettchen gebaut, als plötzlich Soldaten den Raum stürmten. Sie schrien und beschuldigten die Bewohner, zu den Rebellen zu gehören. Die kleine Jehan Usop spürte den stechenden Schmerz der Stiefel eines Soldaten, der sie brutal und mit einer solchen Wucht trat, dass sie gegen die Wand flog. Sie war gerade einmal vier Jahre alt.
Das war Anfang der 1980er Jahre, erinnert sich die 42-Jährige, die heute selbst vierfache Mutter ist. In ihrer Kindheit und Jugend erlebte sie den scheinbar endlosen Teufelskreis von Gewalt und Vertreibung. Heute sagt sie, die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend hätten sie stark und widerstandsfähig gemacht. Und diese Kraft kann sie gut gebrauchen. Denn bis heute wird die muslimische Minderheit, der sie angehört, in ihrer Heimat, der philippinischen Region Bangsamoro, unterdrückt. Doch ein 2019 angestoßener Friedensprozess macht Hoffnung. Anders als ihre Eltern, die sich mit Gewalt wehrten, möchte Jehan Usop eine Friedensstifterin werden.
Heute ist sie treibende Kraft eines Netzwerkes, das die Berichterstattung über den Konflikt und den Friedensprozess verbessern will: das Kutawato Multimedia Network. »Viele Menschen vor allem in den ländlichen Regionen haben kaum Zugang zu verlässlichen Informationen«, sagt sie. Sie gründeten das Radioprojekt »Die Stimme des Friedens«. Einmal in der Woche informiert eine einstündige Sendung über den Friedensprozess und lässt alle Konfliktparteien zu Wort kommen. Das Netzwerk hat dabei einen starken Partner vor Ort: das Forum Ziviler Friedensdienst e. V. (ZFD). Das ist ein Zusammenschluss von knapp 40 Organisationen, die Menschen in gewaltsamen Konflikten auf dem Weg zum Frieden begleiten. Der zivile Friedensdienst arbeitet mit Friedensberaterinnen und -beratern in Deutschland und zwölf weiteren Ländern in Europa, dem Nahen Osten und Südostasien. In seiner Akademie für Konflikttransformation bildet es Friedensfachkräfte aus, die weltweit in der Gewaltprävention und Friedensförderung eingesetzt werden.
Zum Jahrestag der »Zeitenwende«- Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz, die vor allem der Stärkung des Militärs galt, forderte das Forum den Kanzler auf: »Leiten Sie jetzt eine Friedenswende ein. Stärken Sie Deutschlands Friedensfähigkeiten!«
Doch das scheint noch in weiter Ferne. Im Koalitionsvertrag habe sich die Ampelregierung zwar verpflichtet, die Mittel für Krisenprävention, humanitäre Hilfe, auswärtige Kulturpolitik und Entwicklungszusammenarbeit im gleichen Maße zu steigern wie die Verteidigungsausgaben, betont Hanna Sanders vom Forum ZFD. Doch dieses Versprechen sei nicht eingehalten worden. Im Jahr 2022 habe die Bundesregierung diese vier großen Bereiche zwar mit insgesamt 16,36 Milliarden Euro unterstützt – und rund dreimal so viel, nämlich 50,4 Milliarden Euro, für Verteidigung ausgegeben. Der ZFD mit seinen knapp 40 Organisationen habe allerdings in den Jahren 2019 bis 2022 jährlich nur 55 Millionen Euro erhalten und rechne für 2023 mit rund 60 Millionen Euro, so die ZFD-Sprecherin. Außerdem plane die Bundesregierung für die kommenden Jahre laut mittelfristiger Finanzplanung Kürzungen bei Prävention, Diplomatie und Friedensförderung. Doch die Friedensfachkräfte lassen sich davon nicht beirren.
Hoffnung in Odessa: Olena Melnyk (Foto: privat)
Auch die Psychologin Olena Melnyk aus Odessa gehört dazu. Als der Krieg in ihrer ukrainischen Heimat ausbrach, war sie gerade unterwegs. Als sie zwei Tage später nach Hause kam, saß sie buchstäblich im Dunkeln. Es gab keinen Strom und kein Licht, aber viel Empathie für alle, die wie sie unter der Situation litten. »Alle hofften, dass es nicht passieren wird«, sagt die Psychologin.
Die Ukrainerin ist langjährige Partnerin des Forum ZFD und hat in ihrer geschundenen Heimatstadt mit zwei Kolleginnen das Netzwerk »Empathy Ukraine« gegründet. In Einzeltreffen – meist online – geht es hauptsächlich darum, anderen zuzuhören, in sogenannten »Trauerkreisen«. »Manche Menschen fühlen sich allein mit ihren Ängsten und ihrem Verlust«, sagt Olena Melnyk. »Wenn sie diese kleinen Inseln der Wärme und Verbundenheit finden, dann gibt das ihnen Hoffnung.« Sie erzählt aber auch, wie die Menschen versuchen, Normalität zu leben. Odessa hat nur zwei Stunden am Tag und zwei Stunden in der Nacht Strom. Dennoch haben Läden, Cafés, Theater, Schulen und Kindergärten geöffnet.
Olena Melnyks Netzwerk hat Gesprächskreise in den Innenhöfen von Odessa organisiert. Und sie hat geholfen, Keller auszubauen – zu Orten des Schutzes und der Kommunikation. Auf die Frage, was ihr zu all dem Kraft gibt, sagt sie schlicht: »Mein Glaube an die Menschlichkeit.«
Gemeinsam Trauern: Sulaiman Khatib (Foto: Combatants for Peace)
Gewaltfreiheit ist keine Schwäche«, davon ist Sulaiman Khatib überzeugt. Er ist Palästinenser, wurde mit 14 Jahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Zehn Jahre und fünf Monate saß er wegen seines Widerstandes gegen die Israelis in Haft. Schon nach einem Jahr hatte er dort mit anderen einen Hungerstreik organisiert. Auf diese Weise sollten gewaltfrei bessere Lebensbedingungen für die Gefangenen erstritten werden. 16 Tage hatten sie sich nur von Salz und Wasser ernährt. Und Erfolg. Doch das reichte ihm nicht. Er nutzte die Zeit im Gefängnis, um sich weiterzubilden, so gut es ging, lernte Hebräisch und Englisch, die Sprachen der gegnerischen Israelis. Mehr und mehr wuchs die Erkenntnis, dass es in dem tiefen Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis keine militärische Lösung geben konnte. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründete er 2006 die »Combatants for Peace«, die »Kämpferinnen für den Frieden«: ehemalige israelische Soldatinnen und Soldaten und palästinensische Kämpfer legen die Waffen nieder und streiten seitdem in dieser größten palästinensisch-israelischen Friedensorganisation für ein Leben ohne Gewalt.
Das Herzstück der Arbeit ist der jährliche »Israeli-Palestinian Memorial Day«. Die gemeinsame Trauerzeremonie gedenkt der Opfer beider Seiten. Allein das ist für viele schiere Provokation. »Sie ist ein Aufruf zu mehr Menschlichkeit«, sagt hingegen Sulaiman Khatib. Waren es anfangs nur wenige Hundert, so kamen jüngst zum 13. Memorial Day rund 8000 Menschen.
Auf einem Foto ist der Palästinenser mit dem Israeli Uri Ben Assa zu sehen. Der ehemalige Widerstandskämpfer und der ehemalige Soldat der israelischen Armee sind enge Freunde. »Es ist für mich nicht leicht, ein Verräter genannt zu werden«, sagt Uri Ben Assa. Beide sind heute gleichberechtigte Direktoren der Partnerorganisation des ZFD. Sie werden durch das Friedensforum bei Vortragsreisen, Gesprächsterminen und Workshops in gewaltfreier Kommunikation unterstützt. So auch im Jordanland, wo sie vor allem Gespräche mit jungen Menschen organisieren. »Die haben oft die Israelis nur als Kontrolleure oder Siedler kennengelernt. Wir sind der Beweis dafür, dass Frieden möglich ist, weil wir es jeden Tag vorleben«, sagt Sulaiman Khatib.
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
Zum Vergrößern hier klicken.
Weitere Impressionen finden Sie hier.