Bei den Leidenden bleiben
Corona und Seelsorge: In einer Kreischaer Klinik begleitet Pfarrerin Ramona Uhlemann Patienten – auch auf ihrem letzten Weg. Die Pandemie bringt sie an Grenzen. Doch sie erlebt: Der Trost dringt auch durch Schutzschichten.Ramona Uhlemann beherrscht den Tanz mit dem Virus fast perfekt. Wenn sie den gelben Pla- stekittel auszieht, berührt sie ihn nur von innen. Die Außenseiten könnten infektiös sein. Vorsichtig faltet sie die Schutzkleidung zusammen, so wie die blaue Gesichtsmaske und die Handschuhe auch. Die Pfarrerin hat es sich von den Krankenschwestern zeigen lassen. Seelsorge in Zeiten der Pandemie ist auch die Sorge vor diesem unsichtbaren Feind namens Corona.
Für Ramona Uhlemann (56) sind diese Bewegungen längst normal. Sie weiß den Tag noch genau, als es begann: Es war der 16. März 2020, als die Bavaria-Klinik in Kreischa am Fuße des Osterzgebirges Ersatzkrankenhaus für Covid-Patienten wurde. Innerhalb weniger Tage wurden damals ganze Stationen freigemacht für die Opfer des neuartigen Virus’. Denn die Reha-Klinik ist über 1000 Betten groß – vor allem aber hat sie viel Erfahrung mit künstlicher Beatmung. Jetzt, im Herbst 2021, kommt Corona zurück. Zum vierten Mal. Eines aber war im Frühling am Anfang der Pandemie noch schlimmer. »Es waren über Monate keine Besuche möglich, gar keine, null«, erinnert sich die Kreischaer Klinikseelsorgerin Ramona Uhlemann. Die Einsamkeit kam auf das Leiden am Virus noch obendrauf, für alle Patienten – ob mit oder ohne Covid. Und verdoppelte es oft.
Die Pfarrerin durfte die Corona-infizierten Patienten besuchen, wenn sie im Sterben lagen. Sie trat im Vollschutz ans Krankenbett: mit Gesichtsvisier, Kittel, Maske und Haarnetz. »Mein Handy war mein bester Mitarbeiter in dieser Zeit«, sagt Ramona Uhlemann. Sie hielt es den Kranken hin, so dass sie wenigstens auf diesem Weg ihre Lieben sprechen und sehen konnten, und umgekehrt. Abends saß die Seelsorgerin noch lange in ihrem Büro in der Klinik und rief besorgte Angehörige zurück, die sie um eine Nachricht gebeten hatten.
Ramona Uhlemann lacht viel und gern. Sie wirkt wie eine Pfarrerin nicht nur des Wortes, sondern der Tat. Aber in diesen Monaten, sagt sie, ging es an die Grenzen ihrer Kraft. Dazu kam die Angst. »Ich bin eigentlich kein ängstlicher Mensch – aber in dieser Zeit, als es noch keine Impfung gab, lauerte in der Klinik hinter jeder Ecke auch der Gedanke: Du kannst dich anstecken.« Sie ging trotzdem zu den Patienten. So wie die Schwestern und Pfleger, die Ärzte, die Therapeuten.
Dann flaute die erste Corona-Welle auch in Kreischa ab, es kam der Sommer 2020 und mit ihm die Hoffnung. Seitdem dürfen die Kranken in Kreischa wie in anderen Kliniken wenigstens etwas Besuch bekommen: pro Woche eine Person für eine Stunde. Vorbei war das Virus nicht.
Dann kam im Herbst 2020 die zweite Welle. Dann die Impfung, neue Hoffnung. Jetzt Welle vier. Ramona Uhlemann geht noch immer mit Kittel und Maske durch die Gänge der neobarock geschwungenen Kreischaer Klinik, die mit ihren Teppichen und Messinggeländern eher wie ein Hotel anmutet als ein Krankenhaus. Sie lernt an den Betten auch noch immer viel über Kommunikation ohne Sprache. Viele Patienten, die künstlich beatmet werden, formen die Lippen, als wollten sie etwas sagen, und suchen die Hand der Pfarrerin.
Sie hört ihnen zu, auch ohne Worte. Oder betet mit ihnen. Oder singt, wenn es dunkel wird über den Talhängen um Kreischa, mit ihnen »Abend ward, bald kommt die Nacht« und »Der Mond ist aufgegangen«. Sie singt gern. Oder bringt eine CD mit, wenn Patienten sich nach Musik sehnen. »Nicht immer brauchen die Patienten von vornherein die großen biblischen Wahrheiten«, sagt Ramona Uhlemann, »sondern Aufmerksamkeit und Hilfe in so vielen kleinen Dingen, die wahrgenommen werden wollen. Und dann bekommen sie oft auch ein offenes Herz für das Evangelium.«
Hat Corona mit Gott zu tun? Nur zwei Patienten, erinnert sich die Seelsorgerin, hätten in Gesprächen mit ihr die Pandemie als Strafe des Schöpfers gedeutet. Nur zwei. »Die meisten Kranken wollen einfach wieder gesund werden – für solche Fragen haben sie keine Kraft.« Ramona Uhlemann glaubt selbst nicht, dass das Verderben von Gott gesandt wurde. Für sie gehören Viren zur dunklen Seite der Schöpfung, so wie Erdbeben auch.
Von dieser dunklen Erfahrung hat die Seelsorgerin dennoch etwas gelernt: Demut. »Wir Menschen denken oft: Wir sind die Größten und haben alles im Griff – und dann kommt so ein kleiner Virus und lehrt uns, dass wir gar nicht so viel im Griff haben.« Es ist eine schmerzhafte Lehre. Das wurde ihr bewusst, als sie an das Krankenbett jenes Handwerkers trat, ein Mann wie ein Bär, der nur nach Luft rang. Oder an den Betten der Sterbenden. Im Vollschutz, mit Visier. »Ich dachte oft: Eigentlich würde ich gern ihre Hand halten. Und musste doch anderthalb Meter entfernt sein.«
An die alte Dame aus dem Erzgebirge muss Ramona Uhlemann noch immer denken, deren Lebensende so unerwartet schnell voranschritt. In den letzten Stunden dürfen Angehörige trotz Corona an das Krankenbett kommen, doch ihre Tochter wurde von einem Schneesturm aufgehalten. Sie bat die Seelsorgerin um einen Besuch. Und Ramona Uhlemann kam und hielt das Telefon an den Kopf der Mutter, damit ihre Tochter mit ihr sprechen kann. Ein letztes Mal. Am nächsten Tag ist die alte Dame gestorben. Für die Tochter blieb eine Leere. So wie für viele, die in der Pandemie nicht Abschied nehmen konnten.
»Das viele Sterben nicht aufhalten zu können, ist auch für die Pfleger und Ärzte eine unheimliche Belastung«, weiß die Klinikseelsorgerin. Auch für sie will sie da sein. Die Pfarrerin spricht mit Hochachtung von der Leistung des Klinikpersonals.
Und dann war da noch dieser Tag im November vor einem Jahr. Mitten in der zweiten Corona-Welle, mitten im Kampf um so viele Leben und mitten im Sterben rief ein junger Intensivpfleger die Pfarrerin an: »Es ist doch bald Weihnachten und für die Patienten ist es gerade besonders schlimm – wir müssen ihnen eine Freude machen. Ich habe zwar vom Glauben nicht so viel Ahnung, aber wir haben auf der Intensivstation schon einmal angefangen, ein Krippenspiel zu üben.«
Eine Krankenschwester schrieb den Text nach dem Lukasevangelium, Intensivpfleger und Oberärzte und Therapeuten spielten mit. Die Haustechniker bauten eine Krippe auf der Wiese zwischen den beiden Kreischaer Klinikgebäuden und Ramona Uhlemann hielt eine kurze Predigt. Manche Patienten sahen in dicke Jacken gehüllt von den Balkonen aus zu, die meisten über das Klinikfernsehen. So wurde doch noch Weihnachten im Lockdown.
Der Tod aber blieb, selbst am Fest von Christi Geburt. Am zweiten Weihnachtstag wurde Ramona Uhlemann zu einem Covid-Patienten gerufen. Der Mann lag im Sterben. Mitte 60 war er alt, seine drei Kinder standen um sein Bett. Mit Visier und Kittel und Maske wie die Pfarrerin. Sie betete mit ihnen, las aus der Bibel, sang, sie erteilte ihm den Sterbesegen. Wenige Minuten danach, erinnert sich Ramona Uhlemann, schlief er friedlich ein.
»In diesem Moment«, sagt die Seelsorgerin, »stand diese ganze Schutzmontur nicht zwischen uns, sondern ich spürte: Es gibt nichts, was das Evangelium aufhalten kann, es dringt durch alles durch.« Durch Masken, Kittel, Schutzbrillen. Auch durch das Unheil einer Pandemie, die manchmal uferlos scheint.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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