Abgehauen?
Aufarbeitung: Pfarrer Hans Günther reiste 1987 aus der DDR gen Westen aus – der Druck auf seine Familie wurde ihm in der SED-Diktatur zu groß. Er hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht – und zahlte einen hohen Preis. Seine Kirche entließ ihn nach dem Ausreiseantrag und zog die Ordinationsrechte ein.Hans Günther hat nach über 30 Jahren Frieden gemacht mit seiner Vergangenheit und auch mit seiner früheren Kirche. Wir sitzen im Wohnzimmer seiner Nichte, der Pfarrerin Antje Leschik, in Drackendorf am Rande Jenas mit Blick auf einen kleinen Park. Der Termin ist letzten Sommer zustande gekommen. Ich hatte versucht, zu dem heute 83-jährigen, früheren Thüringer Pfarrer Kontakt aufzunehmen. Zufälligerweise war er gerade von Holland aus mit seinem Cousin zu Besuch in Thüringen unterwegs.
Es fällt ihm nicht leicht, über die Zeit damals zu sprechen. Bis heute bezeichnet er seine Ausreise als »Abhauen«. Dabei hatte er lediglich seine Frau und die vier Kinder in Sicherheit bringen wollen. Denn Schuldirektor, Parteisekretär und Kreisschulrat drohten aus nichtigem Grund damit, das Erziehungsmonopol des Staates durchzusetzen. Das bedeutete im schlimmsten Fall den Entzug der Elternschaft. Fälle von Kindesentzug hatte es in der DDR immer wieder gegeben.
An Ausreise oder gar Flucht dachte Hans Günther bis 1987 nie. Obwohl einem entsprechenden Antrag vermutlich stattgegeben worden wäre. Günthers Frau, die Pfarrerin Hermien Günther-van Dijk, ist Holländerin. Auch die vier Kinder des Ehepaars besaßen die niederländische Staatsbürgerschaft. Mit ihrem niederländischen Pass konnte Hermien Günther-van Dijk mühelos über die Grenze und ihre Eltern besuchen. Dabei durfte die Familie sie auch einmal begleiten. Hans Günther musste allerdings zuvor der »Jungen Gemeinde« (JG) in Themar (Kirchenkreis Hildburghausen-Eisfeld) versprechen wiederzukommen. »Das werde ich auf jeden Fall«, sagte er damals. »Selbst wenn eines Tages die Mauer fallen sollte, werde ich hier zusammen mit euch als die Letzten das Licht ausmachen.«
Dass es anders kommt, konnte niemand ahnen: Hermien Günther-van Dijk plant 1987 zur Pflege ihrer kranken Eltern nach Holland zu gehen. Sie lässt sich vom Pfarrdienst beurlauben. Der Mann und die Kinder sollen in den Sommerferien nachkommen. Dem Antrag wird überraschenderweise stattgegeben. Doch der Urlaub wird zur Zerreißprobe. Vor allem Hans Günther ist hin- und hergerissen. Seine Gefühle beschrieb er in einem Brief: »Ich könnte zur Not den Rest meines Lebens damit fertig werden, wenn ich mich auf den Fernseher, die Trauerfeiern, die Mahlzeiten und das Bett beschränken würde. Aber der Gedanke, dass meine Kinder angepasste Strolche oder verbitterte Außenseiter sein werden, macht mich rasend.« Trotz ausgezeichneter Schulnoten dürfen die beiden ältesten Kinder nicht auf die Erweiterte Oberschule (EOS). Am Ende kommt er zu dem Schluss: »Jetzt habe ich verloren. Und daran ist nichts zu rütteln.«
Nach unzähligen, langen Diskussionen fällt die Familie eine Entscheidung: Hermien und die Kinder bleiben im Wohnwagen in Holland, und Hans Günther soll alleine mit dem Zug zurück nach Eisenach fahren. Dem Ehepaar ist allerdings klar, dass Hans vermutlich schon am Bahnhof Gerstungen, dem Grenzübergang, abgefangen und für etwa drei Jahre ins Gefängnis gehen würde. Das wollte er für die Freiheit seiner Kinder aber in Kauf nehmen. Warum er überhaupt wieder in die DDR zurückgefahren ist, erklärt Hans Günther so: »Ich stand im Wort bei meiner Gemeinde. Und ich wollte nicht einfach gehen, ohne die Beweggründe dargelegt und die Pfarrstelle ordentlich an einen Nachfolger übergeben zu haben.« Im Zug bittet er einen Mitreisenden, seiner Schwiegermutter eine Nachricht zukommen zu lassen, falls man ihn an der Grenze festnimmt. Doch dazu kommt es nicht. Bei der Passkontrolle stutzt der Polizist kurz und fragt, wo denn die im Pass aufgeführten minderjährigen Kinder seien. Für einen Moment überlegt Günther, ob er die Wahrheit sagen soll, aber er sagt dem Grenzer, wie es war: »Die Kinder sind nicht dabei und kommen nach.« Das reicht als Begründung. Der Polizist streicht im Reisepass die Namen durch und gibt Günther das Dokument zurück. In Eisenach angekommen, steigt Hans Günther in den am Bahnhof geparkten Trabant und fährt postwendend nach Berlin. Am nächsten Morgen gelingt es ihm, am Wachposten vorbei, in die niederländische Botschaft zu gelangen. Den Botschafter bittet er, sich dafür einzusetzen, dass seine Familie eine Bleibe in Holland bekommt und übergangsweise versorgt wird. Anschließend setzt er sich ins Auto und fährt nach Hildburghausen, um sich ordnungsgemäß zurückzumelden. Als er dann auch noch einen ordentlichen Ausreiseantrag stellt, beginnt für den Pfarrer ein Spießrutenlaufen. Ab dem Zeitpunkt wird Hans Günther zur Persona non grata, zur unerwünschten Person bei Staat und Kirche. Nachdem er seine Pläne der Kirchenleitung dargelegt hat, wird er postwendend, ohne Angabe von Gründen, aus dem Pfarrdienst entlassen. Das Pfarrhaus hat er unverzüglich zu räumen. Dagegen legt der Gemeindekirchenrat Protest ein und droht zurückzutreten. Daraufhin lenkt das Landeskirchenamt ein.
Ein halbes Jahr lang muss Hans Günther ohne Bezüge auskommen. Er verkauft oder verschenkt sein gesamtes Hab und Gut. Doch die Ausreisegenehmigung lässt immer noch auf sich warten. Am Ende tritt er in den Hungerstreik. Er fastet 38 Tage. Dann droht er der Stasi damit, gewissermaßen mit letzter Kraft, seine Geschichte im West-Fernsehen öffentlich zu machen. Einen Tag später bekommt er die Ausreisepapiere.
In Oberfranken wird er vom Grenzpolizisten mit einem Blumenstrauß empfangen. »Willkommen, Herr Günther.« Woher er seine Ankunft und seinen Namen kenne, will der Pfarrer vom Westbeamten wissen. Die Stasi habe sie informiert, antwortet er. Das Glück über die gewonnene Freiheit trübt sich jedoch rasch ein. Hans Günther erhält von der Thüringer Landeskirche keine Freigabe für den Pfarrdienst im Westen. Im Gegenteil, die Pensionsansprüche für den 20-jährigen Pfarrdienst werden ihm und seiner Frau aberkannt, die Ordinationsrechte entzogen. Die Ordinationsurkunde müssen beide an die Landeskirche zurückschicken. Der Pfarrer arbeitet übergangsweise als Hilfsarbeiter auf einem Bauernhof, während seine Frau eine Anstellung als Pfarrerin in der niederländischen reformierten Kirche erhält. Zu der Zeit werden gerade Seelsorger gesucht. Der inzwischen 49-Jährige kann nach einem einjährigen theologischen Zusatzstudium an der Universität Amsterdam, in dem er auch die Sprache erlernt, in den Pfarrdienst gehen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in den Niederlanden beantragte bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, die Ordinationsrechte an das Ehepaar zurückzugeben. Im August 1989 wurde dem Antrag, zumindest für Hans Günther, stattgegeben. Hermien Günther-van Dijk erhält ihre Urkunde erst Jahre später zurück.
Auf Günthers Schreiben im Jahr 2006, wo er um die Prüfung seiner Pensionsansprüche aus der 20-jährigen Tätigkeit als Pfarrer in Thüringen bittet, erhält er nicht einmal eine Antwort. Stattdessen sieht er sich mit Vorurteilen und Unterstellungen aus dem ehemaligen Kollegenkreis konfrontiert. Er habe seine Kirche verraten, bekommt er da zu hören. Sein Eindruck sei hingegen genau anders herum gewesen. Er sei sich natürlich auch bewusst, dass er damals viele Menschen enttäuscht habe. Das tut ihm immer noch leid. Schließlich waren ja alle betroffen, auch die Kinder seiner Brüder. »Aber ich bin der, der abgehauen ist.«
Heute hat er trotzdem mit all dem abgeschlossen. »Ich bin glücklich und einer der fröhlichsten Menschen dieser Welt«, sagt er von sich. Er hätte sich früher nicht vorstellen können, einmal durch Thüringen zu fahren, um die Schönheit des Landes zu genießen. Nein, Forderungen stelle er keine gegen seine frühere Kirche. Was passiert ist, sei passiert. Es war allein seine Entscheidung, zu gehen.
Das Bußwort und die Anerkennung des Unrechts durch die Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) findet Günther gut. Eine Entschuldigung der damals Verantwortlichen aus der Kirchenleitung hätte er aber besser gefunden. Beispielsweise dafür, dass man sich nicht schützend vor ihn gestellt habe, als der Staat eine Geldstrafe für eine ökumenische Gemeindeveranstaltung verhängte. Günther weigerte sich damals, die Strafe zu bezahlen, bis das Landeskirchenamt einschritt, die Zahlung übernimmt, aber zugleich den Betrag vom Gehalt Günthers abzieht.
Lange hat nicht nur die Kirche, sondern auch Hans Günther geschwiegen. Er brauchte Zeit, sagt er, um die Geschichte zu verarbeiten. Beim Familienbesuch in Drackendorf erzählt er zum ersten Mal ausführlich, wie es ihm damals ergangen ist. »Es ist wichtig, dass diese Schicksale für nachfolgende Generationen dokumentiert werden. Da ist meine Lebensgeschichte ja gar nichts gegen das, was andere erlitten haben.«
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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