Wenn Todesmächte walten
Gott und Leid: Wie kann im Angesicht schrecklicher Katastrophen wie der des 9. November 1938 oder des 7. Oktober 2023 von und zu Gott gesprochen werden? Wie kann der Glaube halten?
»Wer soll denn heute noch predigen? ... Ist uns nicht allen der Mund gestopft in diesen Tagen? Können wir heute noch etwas anderes als nur schweigen?« Das sagte der damals 29-jährige Theologe Helmut Gollwitzer am Buß- und Bettag 1938, vor 85 Jahren. Die Reichspogromnacht lag gerade eine Woche zurück. Am 9. November 1938 griffen organisierte Schlägertrupps, SA- und NSDAP-Mitglieder und ein von der Reichspropaganda angestachelter Mob jüdische Menschen überall in Deutschland an. Sie verwüsteten Läden und Wohnungen, setzten Synagogen in Brand, schlugen, verschleppten und töteten Jüdinnen und Juden. Viel zu wenige stellten sich schützend vor sie; viel zu viele schauten weg. Pfarrer Gollwitzer war einer der wenigen, der erkannte, dass der 9. November 1938 eine Zäsur bedeutete, nach der man nicht einfach so weitermachen kann wie vorher.
Am 7. Oktober 2023, dem jüdischen Festtag der Freude der Tora, überfielen Terroristen der Hamas Israel, drangen in Häuser ein, töteten Kinder, Frauen, Männer, zerstückelten Leichen, vergewaltigten Frauen, verschleppten auch Kleinkinder und Alte. Am zentralen Dizengoff-Platz in Tel Aviv entstand in den Tagen nach den Terrorangriffen mit den insgesamt mehr als 1400 Toten, mehr als 200 Verschleppten und unzähligen Verletzten und Traumatisierten ein spontanes Mahnmal. Kerzen wurden und werden dort entzündet; auf einem Banner steht »Nigmeru hamilim«, übersetzt: »es fehlen die Worte« oder drastischer: »es gibt keine Worte mehr«. Uns steht der 9. November 2023 bevor. Am kommenden Donnerstag werden hoffentlich überall in Deutschland Christinnen und Christen zusammenkommen, um zu schweigen, zu beten und zu gedenken. Noch immer sind nicht alle Opfer des Terrorangriffs der Hamas bekannt; noch längst nicht alle Leichen identifiziert. Viele sprechen bei dem, was am 7. Oktober geschah, von einem Pogrom – zu Recht. Es war ein Anschlag, der auf brutalste Weise jüdisches Leben auslöschen und Israels Existenz angreifen wollte. Immer wieder wurde in Deutschland gefordert, dass es etwas wie den Antisemitismus im Nationalsozialismus und die Vernichtung jüdischen Lebens durch die Schoah »nie wieder« geben dürfe. Und »nie wieder«, das ist jetzt. Jetzt geht es darum, alles zu tun, damit Judenfeindschaft keine Chance hat.
Dazu braucht es nicht viele Worte, im Gegenteil. Gedenken, das heißt zuerst hinzuhören. Josef Malachi Guedalia war 22 Jahre alt. Vor einem Jahr hatte er geheiratet. Ein ganzes Leben stand ihm bevor. Er war Soldat, eingesetzt in der Nähe von Gaza, und wurde getötet, als er Terroristen der Hamas entgegentrat. Auf dem Herzlberg in Jerusalem fand die Beerdigung statt, am 11. Oktober, abends um halb neun, weil die Stunden des Tages derzeit nicht ausreichen für die vielen Beerdigungen. Es war still, als seine Frau erzählte, wie sie gemeinsam Tora studiert haben, als sein Bruder den lebenslustigen und frommen jungen Mann beschrieb und dann Worte aus dem ersten Buch Mose zitierte: »Mein Sohn Josef lebt noch«, so sagt Jakob in der Bibel, als er erfährt, dass sein 23 Jahre lang totgeglaubter Sohn noch am Leben ist. Josef Guedalia lebt nur noch in der Erinnerung derer, die ihn kannten, und – so die Hoffnung der Familie – bei Gott, der ihn beim Namen ruft.
Es gilt, auf solche Geschichten zu hören und in aller Klarheit zu zeigen, dass wir an der Seite der Jüdinnen und Juden, an der Seite Israels stehen. Wenn wir dann Worte finden, dann solche, die unmissverständlich deutlich machen, dass wir, Christinnen und Christen, verbunden sind mit dem Juden Jesus Christus und durch ihn mit Gottes ersterwähltem und bleibend erwähltem Volk Israel. Wenn jetzt Worte nötig sind, dann solche, die jedem Antisemitismus entgegentreten und jeder Rhetorik, die die Angriffe auf Israel zwar wahrnimmt, aber gleich ein »Aber« dahinter setzt und das Geschehen erklären will mit Verweis auf die Geschichte des Nahost-Konflikts.
Vor einigen Tagen sprach ich mit einem Rabbiner in Jerusalem. Er sah unendlich müde aus. Fast Tag und Nacht habe er Menschen besucht, die um Familienangehörige trauern, so erzählte er. Er habe etwas gelernt in diesen schweren Tagen, so sagte er. Etwas, was er eigentlich wusste, aber noch nie so deutlich erfahren habe: Entscheidend sei doch die Barmherzigkeit und das Erbarmen: Gottes Erbarmen mit uns – und unser Erbarmen miteinander. Und er könne nur beten, dass der Hass aus den Gesichtern verschwinde, Erbarmen möglich werde.
Das ist kein Plan für den Frieden in Nahost – aber dafür ist jetzt auch nicht die Zeit. Es ist Zeit für das Gedenken und für das Erbarmen. Es ist nicht einfach, aber manchmal einfach unerlässlich, auszuhalten, dass wir keine schnellen Antworten haben. Es ist die Zeit zu schweigen, zu hören und mit Jüdinnen und Juden zu beten. Am besten vielleicht so, dass wir eintauchen in die Worte der Bibel, der Psalmen. Psalm 74 etwa ist ein Wort der Klage Israels über die Feinde, die das Heiligtum verwüsten, die Axt erheben, das Volk unterdrücken und »alle Gotteshäuser im Lande« verbrennen. Neben diesen Vers schrieb Dietrich Bonhoeffer in seine Bibel das Datum »9. 11. 1938«. Der Psalm erinnert Gott dann leidenschaftlich an das, was er einst getan hat, fragt, wo er jetzt sei, und bittet: »Mach dich auf, Gott ...«. So können auch wir beten, Gott klagen und ihn um sein Handeln bitten: um eine Heilung der Wunden, um den Trost für die Trauernden, um ein Wohnen Israels in Sicherheit, um Frieden und Gerechtigkeit. Ja, selbstverständlich um den Frieden für alle Menschen guten Willens in Israel und Palästina. Und darum, dass Gott den Hass derer, die Israel zerstören und alle Juden vernichten wollen, besiege. Um Wege eines Miteinanders im Heiligen Land.
Hoffentlich setzen viele ein Zeichen am kommenden Donnerstag. Hoffentlich laden viele Gemeinden ein zu Stille und Gebet für Israel und für Frieden im Heiligen Land. Hoffentlich zünden viele Kerzen an in den Kirchen und auf den Plätzen unserer Städte. Hoffentlich gedenken viele gemeinsam mit Jüdinnen und Juden, klagen und beten mit ihnen. So kann und wird auch in dunklen Tagen Hoffnung entstehen.
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