Das Jüngste Gericht ist gnädig
Gnade und Recht: Die Juristin Antje Dietsch aus Zwickau arbeitet als Richterin am Bundesgerichtshof. Im SONNTAG-Interview spricht die Christin über positive und negative Wirkung von Strafe und weshalb sie nicht an einen strafenden Gott glaubt.
Frau Dietsch, Sie sind seit Jahresbeginn Bundesrichterin. Gratulation. Ist Ihr Karriereziel erreicht?
Antje Dietsch: Was ich jetzt erreicht habe, war für mich von vornherein völlig unvorstellbar. Ich bin eine ostdeutsche Frau aus der Provinz, die ihre Jugend in der DDR verbracht hat. Als solche ist man nicht dazu geboren, Bundesrichterin zu werden.
Wie ist es trotzdem dazu gekommen?
Ich bin mehr oder weniger zufällig zu Jura gekommen. Ich hatte ein ganz gutes Abitur und stand damals vor der Wahl von Jura- oder Medizinstudium. Beides hat mich fasziniert. Ich habe mich damals sogar mit meinem Pfarrer beraten. Er hat Jura empfohlen, mein Vater übrigens auch. Was für mich an Jura wichtig ist, dass man Gestaltungskraft hat. Man kann nach vorn gestalten, als Staatsanwältin muss man aber eher das schon in Scherben Gefallene aufkehren.
Also doch nicht nach vorn gestalten?
Es gibt verschiedene Straftheorien. Die mittelalterlichen, die wir auch aus der Bibel kennen, waren Auge um Auge, Zahn um Zahn, also Vergeltung. Diese Straftheorien passen auf unsere Zeit nicht mehr. Wir haben seit 250 Jahren ein staatliches Gewaltmonopol. Die Straftat wird als Angriff auf das Normgefüge der Gesellschaft und auf den Staat verstanden. Darauf reagiert der Staat. Mit der Strafe soll der Einzelne davon abgehalten werden, künftig wieder eine Straftat zu begehen.
Es kann aber auch das Gegenteil der Fall sein.
Im Jugendstrafvollzug führt ein vollzogener Freiheitsentzug dazu, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit steigt und nicht sinkt. Der moderne Strafvollzug muss deshalb die Menschen befähigen, dass sie hinterher besser sind, als sie vorher waren. Das geht etwa durch die Gelegenheit für Schulabschlüsse oder eine Lehre, durch geregelte Tagesabläufe oder auch Therapien.
Gibt es Alternativen zur Strafe?
Es besteht allgemeiner Konsens, dass ohne Strafen es auch keine Akzeptanz gibt. Es würde totale Reibung geben.
Strafe muss also sein?
Offensichtlich ist es in uns so angelegt, dass es sein muss. Die Gesellschaft braucht das, auch als generelle Prävention. Wenn die Gesellschaft sieht, auf einen Mord oder Raub folgt eine Freiheitsstrafe, dann ist die Idee, dass es alle anderen auch von Straftaten abhält.
Dann schauen wir gleich mal auf den Anwendungsfall bei Ihnen. Mit welchen Strafen haben Sie denn Ihre Kinder erzogen?
Bei mir gibt es weder »Ich zähle bis drei« noch Stubenarrest oder sonstige Strafen, die nichts konkret mit dem Vorwurf zu tun haben. Wir haben unseren Kindern auch kein Geld entzogen, weil ich überzeugt bin, dass Kinder durch Strafen dieser Art nichts Gutes lernen. Meinen Kindern war immer klar, wo meine Grenzen sind. Zufällig hat das geklappt, vielleicht weil ich überwiegend Töchter habe.
Sind Strafen etwa kontraproduktiv?
In der Erziehung denke ich, dass es Konsequenz braucht und Konsequenzen geben muss. Bei Erwachsenen gibt es Geld- und Freiheitsstrafen, unabhängig von der Tat. Bei Kindern sollte die Reaktion immer in Verbindung stehen mit dem, was man vermeiden möchte. Jugendliche sehen später schon ein, dass man Normen am besten einhält, weil sonst das ganze System nicht mehr funktioniert.
Es gibt aber auch Tendenzen, gerade in der Corona-Zeit, dass jeder nur sich sieht, ohne Rücksicht auf andere.
Ich denke, dass die Gesellschaft immer zivilisierter wird. Früher haben die Leute ständig ihre Kinder geschlagen. Als ich früher zur Disko aufs Dorf gegangen bin, war jedes Mal eine Schlägerei. Da hat man die Dinge so geklärt. Das hat sich geändert. Es gibt eine viel größere Empfindlichkeit für den eigenen Schutzbereich. Es wird viel früher Anzeige erstattet. Und Tatsache ist: Die schweren Gewaltdelikte gehen zurück genauso wie Sexualdelikte. Für Vergewaltigung in der Ehe gibt es heute eine unglaubliche Sensibilität. Und was früher gar nicht für strafwürdig erachtet wurde, ist es heute.
Wenn Jesus nun die Ehebrecherin nicht bestraft, sondern belehrt und wegschickt. Wie ist das juristisch einzuordnen?
Absolut modern gedacht. Er hat schon vorweggenommen, was wir heute mit den Jugendlichen machen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Strafe die Menschen nicht zwingend besser macht. Es gibt auch andere Möglichkeiten der Einwirkung, die einen inneren Prozess der Umkehr einleiten. Jesus hat also moderne Straftheorien angewandt.
Ist Ihre christliche Prägung für Ihre Arbeit hilfreich, etwa auch bei Fragen zu Abtreibung oder assistiertem Suizid?
Das hilft natürlich immer. Bei assistiertem Suizid ist die Frage eigentlich eine rechtspolitische, nämlich wollen wir das weiter unter Strafe stellen oder wie wenden wir das geltende Recht auf Lebenssachverhalte an. Der 6. Strafsenat, für den ich arbeiten konnte, hatte jüngst folgende Entscheidung zu treffen: Ist eine Frau zu bestrafen, die ihrem todkranken Mann das von ihm erbetene Insulin gab, um einen bereits in die Wege geleiteten Suizid abzusichern? Der 6. Strafsenat kam zu der Überzeugung, sie nicht zu bestrafen. Und diese Überzeugung teile ich aus vollem Herzen.
Warum?
Sie mag pietistischen Auffassungen darüber widersprechen, ob man einem Menschen dabei helfen darf, sein Leben zu beenden. Weil vielleicht die Auffassung besteht, dass es allein Gott ist, der Leben geben und nehmen darf. Aber diese Frage müssen wir lösen von der Frage, ob wir diese Frau bestrafen müssen mit einer Freiheitsstrafe. Mein christliches Menschenbild sagt mir: Schaue in der Situation auf denjenigen, dem eine Straftat vorgeworfen wird.
Auch beim Thema Abtreibung?
Ja. Ich habe für mich eine ganz klare Haltung, wie ich zur Abtreibung stehe und für mich Entscheidungen treffen würde. Für mich persönlich widerspricht es dem göttlichen Gebot. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir es weltlich mit Mitteln des Strafrechts verfolgen müssen. Für mich heißt christlich zu sein, auf die konkrete Frau zu schauen und zu fragen, was steht mir zu, sie moralisch zu verurteilen.
Darf die Justiz auch gnädig sein?
Ja, nämlich bei Gnadenverfahren. Die haben mit der christlichen Gnade auch wirklich etwas zu tun. Wenn jemand rechtskräftig verurteilt ist, kann er einen Gnadenantrag stellen. Er kann also Gnade beantragen. Gnadenweise wird zum Beispiel Haftstrafe vor Weihnachten erlassen, obwohl noch einige Wochen abzusitzen wären. Und diese Gnade ist juristisch völlig losgelöst. Man hat keinen Anspruch darauf. Das ist allein die Entscheidung dessen, der darüber befindet und sagt: Du tust mir leid.
Gnade ist also etwas Menschliches?
Ja, etwas total Menschliches. Man könnte auch sagen, Gnade ist Willkür, aber zugunsten eines Menschen.
Waren Sie schon einmal gnädig?
(lacht) Ich war mit Gnadenverfahren bisher noch nicht befasst. Strafrechtliche Gnade ist übrigens ähnlich der göttlichen Gnade. Da hat jemand schlimme Sachen begangen und darf am Ende trotzdem noch als Mensch gesehen werden. Göttliche Gnade bekommen wir in unserer Fehlbarkeit, dass wir uns trotzdem aufgehoben und angenommen fühlen dürfen. Ich darf darauf trauen, dass ich trotz allem noch Gottes Kind bin.
Wie stellen Sie sich das Jüngste Gericht vor?
Bestimmt nicht so, dass auf einer erhöhten Richterbank drei Leute in roten Roben sitzen (lacht). Ich kann ja nur deshalb leben mit all meinen Unzulänglichkeiten, Verfehlungen und wie ich Sünderin bin, weil ich weiß, dass ich ein Jüngstes Gericht überstehen werde. Das Jüngste Gericht kann keines sein, das nach unseren Maßstäben von richtig, falsch und bestrafungswürdig agiert. Das kann nur eines sein, das gnädig ist.
Wo nicht jeder seine gerechte Strafe bekommt?
Ich glaube nicht an einen strafenden Gott. Ich habe eine pietistische Jugendarbeit überlebt und halte das, was da von einem strafenden Gott berichtet wurde, insbesondere den Einfluss auf die Sexualmoral, für nicht richtig. Meine Hoffnung an Gott ist, dass er zu allen und zu allem gnädig ist. Ich denke, dass diese Gnade am Ende dazu führen wird, dass jeder für sich erkennt, was richtig und falsch ist. Vergebung setzt voraus, dass man seine Fehler erkannt hat. Vergebung ist nach vorn gerichtet, dass man das in Zukunft nicht mehr falsch macht.
Das heißt, dass wir jeden Tag besser werden?
Wenn ich die Menschheitsgeschichte anschaue, bin ich davon überzeugt, dass wir jeden Tag besser werden. Ich schaue optimistisch in die Zukunft und bin der Überzeugung, dass wir zivilisatorisch uns bislang nach vorn entwickelt haben: Wir schlagen keine Kinder mehr, wir bringen keine Homosexuellen mehr ins Gefängnis, wir achten darauf, kein Gift mehr in die Gewässer zu leiten.
Also ist der Ruf nach härteren Strafen?
Verfehlt.
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