»Das ist Sünde«
Mensch und Tier: Der Theologe Thomas Ruster beklagt, dass Kirche und Theologie die Tiere vergessen haben und ihr Seufzen nicht hören. Mit einer neuen Theologie der Tiere will er das ändern.Herr Professor Ruster, Sie arbeiten seit einigen Jahren an einer »Theologie der Tiere« und schreiben zu Beginn Ihres Buches »Alles, was atmet«, dass Sie dafür immer wieder belächelt werden. Was entgegnen Sie der Meinung, Theologie und Kirche sollten sich doch zuerst um den Menschen kümmern?
Thomas Ruster: Theologie und Kirche sind dazu da, Gottes Heilszusage zu verdeutlichen. Gott will diese Welt heil machen. Für die Tiere ist aber in unserer theologischen Tradition kein Heil vorgesehen. Sie haben keine Sünde begangen, also gibt es für sie keine Vergebung. Und sie gelangen nicht in die himmlische Herrlichkeit, weil sie angeblich keine unsterbliche Seele haben. Sie werden niemals über ihr Leid getröstet werden, auch nicht über das, das Menschen ihnen antun.
Und das halten Sie für eine Fehleinschätzung?
Ja. Eine Theologie, die das »Seufzen der Kreatur« (Römer 8) nicht hört, wird ihrem Auftrag nicht gerecht. Gibt es denn ein Heil für den Menschen allein? Dies zu denken wird nicht nur der faktischen evolutionär-biologischen Schicksalsgemeinschaft nicht gerecht, sondern führt auch theologisch zu absurden Konsequenzen. Die frühere Theologie dachte sich den Himmel nur von Menschen bevölkert, umgeben nur von den Elementen, ohne Tiere und Pflanzen. Die Tiervergessenheit führt in den Himmel als einen trostlosen Ort.
Kann man wirklich sagen, die Kirchen haben die Tiere vergessen?
Die Tiervergessenheit der theologischen Tradition ist eine Tatsache. Tiere sind die »unbeweinte Kreatur«, wie es Joseph Bernhart, ein Kenner und zugleich einer der wenigen Ausnahmen von dieser Tradition, schon Anfang der 60er Jahre formulierte. Ich sehe nicht, dass das heute in Theologie und Kirche anders geworden ist. Unser Dortmunder tiertheologisches Team hat bundesweit mit großem Aufwand zu einer Tagung zur Theologie der Tiere eingeladen – wir bekamen keine Anmeldungen. Und nach meiner Wahrnehmung ist die Sensibilität für die Tiere in christlichen Gemeinden eher noch geringer als an vielen anderen Orten der Gesellschaft. Hat man je erlebt, dass die Aufstellung des Schwenkgrills oder Würstchenstands beim Gemeindefest auch nur problematisiert worden ist? Ich will das hier nicht moralisch beurteilen. Es ist die Folge der theologischen Ausklammerung der Tiere, die infolgedessen auch das Glaubensbewusstsein der Christen nicht erreicht haben.
Ist für Sie der heutige Umgang mit Tieren, der vor allem deren Nutzbarkeit und Ausbeutung in den Vordergrund stellt, eine Sünde?
Sünde ist alles, was Glaube, Hoffnung und Liebe zerstört. Die Hochleistungskuh, die vor lauter Milchproduktion nur noch Haut und Knochen ist, die Sau, die vor der Geburt ihrer Ferkel Monate in einem 70 Zentimeter breiten Käfig zubringen muss, in dem sie sich noch nicht einmal ausstrecken kann, werden sie noch die Menschen lieben? Und ihren eigenen Nachwuchs, der ihnen ohnehin kurz nach der Geburt weggenommen wird? Wer als Mensch mit Herz und Verstand sieht, wie heute mit Tieren in der Agrarökonomie umgegangen wird, kann leicht die Hoffnung auf eine gerechtere Welt und damit auch den Glauben an Gott verlieren. Ja, dieser Umgang mit Tieren ist Sünde.
Ist an diesem verrohten Umgang mit den Tieren die Moderne mit ihrer Degradierung der Tiere zu »seelenlosen Automaten« (Descartes) schuld? Oder aber auch das Christentum? Immerhin hat der Herrschaftsauftrag über die Tiere in Genesis 1,28 verheerende Folgen für die Tierwelt gehabt …
Die Moderne ist schuld, vor allem die kapitalistische Wirtschaft, die alles, was ihr unter die Finger kommt, gnadenlos ausbeutet. Das Christentum ist aber ebenfalls schuld. Nicht ohne Grund ist der Kapitalismus in christlichen Ländern erfunden worden. Abgesehen von dem Herrschaftsauftrag, der sicherlich zu einseitig im Sinne der menschlichen Interessen ausgelegt worden ist, ist hier auch Weiteres in Rechnung zu stellen: die Entgöttlichung der Tiere als Folge des Fremdgötterverbots im Alten Testament, der Theorieimport aus der antiken Philosophie, die den Menschen vor allem als Geistwesen sah und ihn in einen Gegensatz zu seiner leiblich-animalischen Natur brachte, die Konzentration auf die Gott-Mensch-Beziehung, mit der das Christentum der Neuzeit sich dem Subjektivismus andienen wollte … Eine kritische Aufarbeitung dieser tierfernen Tradition ist ebenso dringend nötig wie die Aufklärung des notorischen christlichen Antijudaismus. Ich finde es jedenfalls peinlich, wenn christliche Tierethiker heute so tun, als hätten sie es immer schon besser gewusst.
Wenn Sie für eine neue Sicht auf die Tiere werben, beinhaltet das auch ein Umdenken bezüglich ihrer Nutzbarkeit? Sollte also ein Christ zum Beispiel seinen Fleischkonsum überdenken?
Umdenken, ja, oder mindestens überhaupt mal anfangen, darüber nachzudenken. Es ist ja diese Gedankenlosigkeit der meisten christlich Getauften in Bezug auf ihr Verhalten den Tieren gegenüber, die so erschreckend ist. Wer eine echte Beziehung zu Tieren gewinnt, wird bald kein Fleisch mehr essen wollen. Wie könnte ich lebendige Wesen töten wollen, um mich von ihrem Fleisch zu ernähren? Ich will daraus keine Regel und kein Gebot machen, für mich ist es einfach eine Frage von Empathie. Aber wenn man hier weiterdenkt, wenn man Tiere als Mitgeschöpfe sieht, die ein Recht auf Leben haben, dann kehrt sich die Beweisrichtung um. Nicht: Sollte ich vielleicht auf Fleisch verzichten? Sondern: Wie kann ich es begründen, überhaupt noch Fleisch zu essen?
Häufig kommt dann der Einwand, dass die Bibel den Menschen zum Herrscher über das Tier gemacht habe und das Tier zur Nutzung da sei. In Genesis Kapitel 9,3 wird ausdrücklich erlaubt, Tiere zu essen …
Die Bibel ist ein Dokument ihrer Zeit. Sie reflektiert auf die Verhältnisse von Ackerbau und Viehzucht, die damals noch neu waren, und sucht nach Regeln für ein angemessenes Verhalten, um Schaden abzuwenden. Dazu gehört zum Beispiel die Einbeziehung der Tiere in die Sabbatruhe am siebten Tag (Exodus 5,14). Das ist bis heute vorbildlich. Aber dass Menschen die Tiere nutzen und auch essen, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Umso erstaunlicher ist es, dass gemäß der Schöpfungserzählung Gott für Menschen und Tiere nur pflanzliche Nahrung vorgesehen hat (Genesis 1,29 f.). Die Bibel stellt auch noch das scheinbar Selbstverständliche unter prophetischen Vorbehalt. Daran können wir heute anknüpfen.
Was wünschen Sie sich von der heutigen Theologie und Kirche?
Empathie. Nähe zu den Tieren. Respekt vor ihrer Fremdheit. Liebe zu ihrer Art von Lebendigkeit. Überwindung der Weltsicht, die allein den Menschen im Mittelpunkt sieht – als wenn alles nur für uns und unsere Interessen da wäre. Und dann auch einen prophetischen, politischen Protest gegen die Art, wie unsere Gesellschaft mit den Tieren umgeht. Überdenken, am besten Beenden der gedankenlosen Gewohnheit, Tiere zu essen.
Haben Sie denn Hoffnung, dass Kirche und Theologie dieses neue Mensch-Tier-Verhältnis bald verwirklichen?
Viel Hoffnung habe ich nicht. Der Überlebenskampf der Menschheit im Zeichen von Klimawandel und Ressourcenknappheit wird vermutlich auch einen Verdrängungskampf gegen die Tiere nach sich ziehen. Vielleicht aber werden einige, vielleicht auch viele das Seufzen der Kreatur hören, und, wie Paulus sagt, mit ihrem eigenen Seufzen verbinden. Die ganze Schöpfung hofft darauf, »dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne und Töchter Gottes offenbar werden« (Römer 8,23). Die Tiere hoffen auf uns, blicken uns erwartungsvoll an. Enttäuschen wir sie nicht.
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