»Jesus würde die Kirche stören«
Demonstrieren: Die Kirchen müssten für Nächstenliebe und die Schwachen auf die Straße gehen, meint der CDU-Politiker Heiner Geißler. Dass sie es kaum tun, kritisiert er scharf. Von Jesus fürchtet er den Vorwurf: Ihr passt euch an.
Herr Geißler, Sie nehmen immer wieder auf die Bergpredigt Jesu Bezug. Würde Jesus heute noch genau dasselbe sagen, was er damals gesagt hat?
Geißler: Ja, das würde er heute natürlich genauso sagen: Er hat es gesagt, und das ist maßgebend. Leider spielt die Bergpredigt heute im kirchlichen und öffentlichen Leben nur eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Gebot der Gottesliebe. Doch Gottesliebe ist nicht besser oder wichtiger als das Gebot der Nächstenliebe. Das sagt Jesus ausdrücklich, sie ist gleichwertig zur Gottesliebe. Aber die Gottesliebe hat heute den absoluten Vorrang: Liturgie, Feierlichkeit, Messgewänder, Posaunenblasen von den Türmen unserer Kirchen, die immer leerer werden. Die andere, eigentliche Botschaft der Nächstenliebe, der Bergpredigt, wird abgeschoben in die Caritas und in die Diakonie. Das ist ein ganz schwerer Fehler. In den Ordinarien und Büros der Oberkirchenräte regieren die Betriebswirte.
Müsste die Bergpredigt heute anders formuliert werden?
Nein, Jesus spricht die Menschen an wie sie sind: In ihrer Armut, ihrem Hunger, ihrer Trauer, ihrer Verfolgung – eben im Elend der Welt. Und in Matthäus 25 hat er erklärt, was das heißt: wer zu mir gehören will, der muss den Hunger bekämpfen, den Menschen Trinkwasser geben, den Obdachlosen eine Wohnung, Flüchtlinge aufnehmen, den frierenden Kleider geben, Kranke pflegen und Gefangene besuchen.
Diese Forderungen sind die Konkretion der Nächstenliebe. Moderner geht es nicht. Das ist der Kern der jesuanischen Botschaft. Eine glänzende Botschaft! Es ist eine schwere Verfehlung der maßgeblichen Theologen und Kirchenführer, dies nicht in der heutigen Welt als die Hoffnung für die Menschen zu präsentieren. Franziskus und Bedford-Strohm allein schaffen es nicht.
Das Gedenken an die Reformation darf sich nicht erschöpfen in Reden und Gebeten, Liedern und Musik und in was weiß ich allem. Die Kirchen müssen Widerstand leisten gegen die Mächte dieser Erde.
In der Welt des Kapitalismus, der Investmentbanker, einer gigantischen Finanzindustrie mit ihren unchristlichen Leitbildern »Egoismus, Gier, Geld, Geiz, Erfolg, Dividende, Profit, Rang und Titel« ist Jesus eine totale Provokation und die Verkörperung von Menschlichkeit und Barmherzigkeit.
Wenn Jesus heute wirklich unter uns Menschen wäre, wo würde er stören?
Sie haben völlig Recht; er würde stören. Wahrscheinlich würde er am meisten die Kirchen stören. Dostojewski hat ja diese Geschichte geschildert, wie Jesus in Sevilla Anfang des 17. Jahrhunderts plötzlich auf den Plätzen erscheint und predigt, und der Erzbischof von Sevilla lässt Jesus verhaften. Und dann trifft er ihn im Gefängnis und die erste Frage des Kardinals an Jesus lautet: Warum störst du uns? Wenn Jesus heute da wäre, würde er den Kirchen den Vorwurf machen: Ihr passt euch an. Ihr müsst für meine Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit demonstrieren und auf die Straße gehen.
Die Kirche würde sich an Jesus stören?
Ja! Er würde ihnen sagen, dass die Bergpredigt eine politische Dimension hat. Die Nächstenliebe ist keine Gefühlsduselei, sondern – das zeigt die Geschichte des Samariters – eine knallharte Pflicht. Wir müssen denen helfen, die in Not sind. Das kann sogar der Feind sein!
Also ist für Sie die Bergpredigt Richtschnur für politisches Handeln?
Selbstverständlich. Das muss sie sein! Ihr Inhalt ist ja klar. Ich, Sie, wir alle sind die Nächsten für die, die in Not sind. Jesus kannte keine Grenzen, auch keine nationalen Grenzen. Diese Pflicht zu helfen, ist global und kann nur erfüllt werden, wenn die Botschaft befolgt wird: Geht hinaus und verkündet, das, was ich euch gesagt habe. Nur so können wir die ungerechte Weltordnung verändern.
Wann und wo haben Sie sich selbst in ihrer politischen Karriere an die Worte Jesu gehalten?
Ich war ja 13 Jahre lang Minister: Sozialminister, Familienminister, Frauenminister, Jugendminister, alles Mögliche. Ich habe meine Entscheidungen immer an der Pflicht orientiert, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Ich hatte diese große Chance, die nicht viele Menschen haben. Ich konnte Gesetzte vorschlagen, die den Menschen wirklich geholfen haben. Das kann nicht jeder, aber jeder kann in seinem Bereich dazu beitragen, dass die Lebensbedingungen der Menschen, für die er Verantwortung hat, sich verbessern: in der Familie, in der Gemeinde und im Unternehmen. Beim Roten Kreuz, bei der Jugendfeuerwehr oder bei Amnestie, Attack, Greenpeace, Caritas oder Diakonie können die Menschen sich einsetzen, damit das Leid auf dieser Erde zurückgedrängt wird.
Solches Engagement ist auch eine Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf Erden. Anders als durch eigenes Engagement können wir die Frage nicht beantworten: Warum versteckt sich Gott? Was ist es für ein Gott, der den einen heilt und den anderen nicht; der einen erhört, aber nicht jeden? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Das muss man so klar sagen. Aber wir können etwas tun, wir können auf Jesus hören und selber einen Beitrag dafür leisten, dass das Elend und das Unglück auf der Welt sich immer weiter verringert. Das ist der Sinn des Lebens. Das können wir als Christen sagen.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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