»Herzen sind Überläufer«
Die neuen Erzählungen Jürgen Israels kreisen um Liebe, Kankheit und Tod sowie DDR-Erfahrungen und ZugewanderteDer Autor Jürgen Israel hält sich in seinem neuen Erzählungsband meistens mit seiner Person sehr zurück. »Ich« ist sowieso immer ein anderer in der Literatur; wohl auch im Leben, weil Zeit vergeht und niemand sich immer gleichbleiben wird. Vermutlich durchziehen dennoch (auto-)biografische Momente jeden dieser Texte: Sei es, dass Erinnerungen sehr direkt in sie Eingang finden; sei es, dass Themen, die den Erzähler beschäftigen: seine Erfahrungen in der DDR, sein heutiges Engagement für Zugewanderte (Israel unterrichtet ehrenamtlich Deutsch für Ausländer), sein Interesse an Menschen und Schicksalen, an Gebräuchen und Ritualen literarisch mit Verfremdungen gestaltet worden sind.
In seiner vorhergehenden Veröffentlichung »Katzendorfer Tagebuch« beschrieb er sehr persönlich, was er in seinem Jahr als »Dorfschreiber« in einem Ort der Siebenbürger Sachsen in Rumänien erlebte.
Der Berliner Autor, Lektor und Kritiker, bekannt geworden auch mit Gedichten, Essays und biografischen Texten (unter anderem zu Marie Luise Kaschnitz, Anna Seghers oder Albrecht Goes), legt hier neue Prosa vor: Erlebnisse, eigene und fremde, die fiktiv verändert wurden – also Fiktionen, die auf Geschehnissen gründen. Authentisch wirken die Texte in jedem Fall, und verschiedengestaltig sind sie – kaum jemand wird sie von vorn nach hinten in einem Zug lesen. Schon durch ihre Länge unterscheiden sie sich: Impressionen von wenigen Zeilen (»Märzgedanken« oder »Lesesaal«) wechseln sich ab mit längeren Erzählungen von ein, zwei Seiten, bis zur längsten 13-seitigen (»Beerdigungstag«). Dadurch entsteht ein Rhythmus, der geradezu zum Innehalten und Nachdenken zwingt.
Nicht nur, weil es in allen Geschichten um elementare Lebensthemen geht – wie in der Geschichte »Herzen sind Überläufer« um Liebe, Erotik, Begehren; und in anderen Geschichten um Geburt, Krankheit, Tod, Verrat, aber auch um Alltägliches – sondern weil sich die Leser direkt angesprochen fühlen, zum Beispiel als Adressatin eines Telefonanrufes oder Briefes. Ob eine Frau oder ein Mann hinter dem »Ich« oder »Du« der Erzählungen steckt, bleibt oft offen und stiftet mitunter (gewollte) Verwirrung.
Auch die Malereien von Agathe Israel, die die Texte begleiten, sind verwirrend, verrätselt. So bieten Lektüre und Bild viel Spielraum für Fantasien, die über das Buch weit hinausreichen.
Jürgen Israel: Der junge Herr Godeau am Karfreitag. Erzählungen. Mit vier Gouachen von Agathe Israel. Pop Verlag Ludwigsburg, 190 S., 15,50 Euro.