Zu Fuß zu Franziskus
Auf 1368 Kilometern unterwegs von Eisenach nach Assisi – Auszug aus dem aktuellen Buch von Eberhard Grüneberg (Teil 3)1. Woche (14.–20. Mai 2018):
Von Eisenach nach Schweinfurt
MITTWOCH, 16. MAI 2018
Schmalkalden — Meiningen (16 km)
Jeder Pilger, selbst wenn er nur nebensächlich in einem spirituellen Kontext unterwegs ist, wünscht sich doch, positive Erfahrungen mit dem kirchlichen Netzwerk zu machen. Das würde geistlich aufbauen. Aber offensichtlich ist für manche Verantwortlichen in der Kirche diese Perspektive gänzlich verborgen. »Mit Pilgern haben wir es nicht so!« Und mit helfen? Wie haben Sie es damit? Wenn von der Kirchgemeinde selber beim Stichwort »Hilfe!« der Tourismusinformation mehr zugetraut wird als sich selbst, dann ist das doch ein Armutszeugnis. Dass ein um Unterkunft bittender Pilger nicht dramatisch hilfsbedürftig ist, ist natürlich richtig. Aber ist, falls es schon keine praktische Hilfe gibt, etwas freundliche Unterstützung und Zuwendung nicht das Mindeste dessen, was möglich sein sollte? Oder erscheint das Engagement für jemanden, der morgen schon nicht mehr da ist, als vergeudete Mühe und Zeit? Gastfreundschaft geht anders! Aber vielleicht ist das auch gar kein Kriterium mehr für die christliche Gemeinde? Eine solche Gemeinde ist dann aber wirklich nicht einladend, wie man es gern betont, sondern trübsinnig. Und zwar für jeden, der hier künftig als Pilger durch die Kirchentür tritt und meint, auf Geschwister im Geiste zu treffen!
Ich merkte, dass mir am Morgen der »Herr Dekan« noch etwas schwer im Magen lag.
Eigentlich sollte es viel Regen geben. Die ersten sechs Kilometer bis zur Oberwallbachmühle ging ich aber vor allem bei Sonnenschein durch lichten Laubwald und meist bergab in Richtung Werra. Schön war das Wallbachtal. Die Mühle lag einsam. Das Mühlrad drehte sich nicht klappernd, sondern geräuschlos. Kein Mensch war zu sehen. Die Kirche in Wallbach war geöffnet. Scheinbar war am Wochenende eine Hochzeit gewesen. Zementsäcke lagen im Chorraum und auf den Bänken am Eingang. Das hatte offenbar niemanden bei der Trauung gestört. Ich bekam Lust zu singen und schmetterte hintereinander »All Morgen ist ganz frisch und neu«, »Verleih uns Frieden« und »Dona nobis pacem«. Dann noch ein Gebet und weiter in Richtung Walldorf.
Die Kirchenburg dort war und wird ein Ereignis. Vor ein paar Jahren abgebrannt, wird sie jetzt aufs Feinste wieder aufgebaut und restauriert. Äußerlich schon strahlend und trutzig wiederhergestellt, waren gerade die Innenarbeiten im Gange. Moderne, mutige, sehr schöne Kirchenfenster von unterschiedlichster Art zogen meine Aufmerksamkeit im alten Gemäuer auf sich. Starke Steinplatten im unregelmäßigem Zuschnitt, große und kleine mit Linien und Schwüngen machten den Fußboden lebendig. Vom künstlerischen Anspruch ließ diese Kirche nichts zu wünschen übrig. Hier weiß einer, was er tut! Großartig!
Auf dem Radweg lief ich entlang der Werra weiter nach Meiningen. Gleich ins Zentrum und rein in die Stadtkirche. Jemand übte Orgel. Dabei ließ es sich gut ins Nachdenken versinken. Hier in dieser Kirche hätte ich vor gut zwanzig Jahren Superintendent werden können. Dann wäre sie mir jetzt vertrauter gewesen. Aber wegen der Wohnung war daraus nichts geworden.
Im Jahr 1999 war ich vom Kirchenkreis Meiningen angefragt worden, ob ich mich im Pfarrkonvent als Kandidat für das Superintendentenamt vorstellen würde. Damals war ich seit gut zehn Jahren in meiner ersten Pfarrstelle in Rüdersdorf in Ostthüringen. Die Anfrage war interessant. Diotima konnte sich einen Wechsel nach Meiningen auch gut vorstellen. Also machten wir mit den Kindern einen Familienausflug und waren verabredet mit dem demnächst aus dem Amt scheidenden Superintendenten Victor. Wir schauten uns die Verwaltungsräume an, sprachen mit Mitarbeitenden, besichtigten die Kirche.
Am Ende der Tour fuhr uns Superintendent Victor zum Mittleren Rasen. Dort sollte unsere künftige Wohnung sein. Aber nicht nur das: In dem großen Gebäude fand offenbar die komplette Gemeindearbeit statt. Als wir auf den Hof fuhren, lagerten überall Jugendliche auf der Wiese. Im Keller befanden sich nämlich die Räume der offenen Jugendarbeit. Wir gingen durch diesen dunklen Keller halb gebückt in den rechten Treppenaufgang. Dort sollte im Erdgeschoss mein Arbeitszimmer sein. Ich warf einen Blick in den langen schmalen Zimmerschlauch und fragte Herrn Victor, wie der vorherige Pfarrer, dessen Arbeitszimmer das gewesen war, denn so gepredigt hat. »Na ja, er war nicht so ein guter Prediger! Das hörte sich mitunter schon auch etwas resigniert an.« Das verstand ich sofort.
Die obere Etage, in der sich unsere Wohnung befinden sollte, war sehr geräumig. Aber es gab keinen Balkon. Ich schaute aus dem Fenster auf die Jugendlichen im Hof und fragte: »Und wenn wir mal sonntagnachmittags im Freien einen Kaffee trinken wollen, wo können wir uns dann hinsetzen?« »Na da unten in der Ecke kann man doch etwas abtrennen!« Alle Chöre und Instrumentalgruppen probten zudem in diesem Haus. Was das geräuschmäßig bedeutete, war noch gar nicht ausgemacht. Aber es war klar, dass man keine Viertelstunde in diesem Hof sitzen würde, ohne Gemeindeglieder zu begrüßen, die den dann offenkundig nichtstuenden Pfarrer mit den Worten »Ja, Pfarrer müsste man sein!« beglücken würden. (…)
Auf der Rückfahrt nach Rüdersdorf waren wir alle sehr still – bis auf Diotima, die weinte. Sie war der Meinung, ich würde, trotz der Wohnung, gerne Superintendent in Meiningen werden wollen. Aber auch ich hatte ein mulmiges Gefühl im Magen. Es wäre unklug gewesen, das zu ignorieren. Wir würden unter diesen Bedingungen nicht glücklich werden. Bei einem Wegzug aus dem idyllischen Pfarrgut in Rüdersdorf brauchte es einen neuen schönen Ort. So ein Ort war jedenfalls nicht das Gemeindehaus am Mittleren Rasen. Also sagte ich ab.
Nach einer Weile bekam ich noch mal einen Brief von der Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates, die traurig über unsere Absage war und fragte, ob es denn wirklich nur um die Wohnung ging? Ja, es ging nur um die Wohnung! Was denn sonst? Die Arbeit musste hier wie dort gemacht werden. Da schreckte mich nicht die Vielzahl neuer Aufgaben. Aber es musste auch die Möglichkeit geben, nach getaner Arbeit gerne nach Hause zu kommen, sich dort wohlzufühlen und mal ganz für sich zu sein, und das auch bei schönem Wetter im Freien. Das war in Meiningen nicht möglich. Schade! Aber so richtig verstanden haben das die Meininger damals nicht, glaube ich.
Nach einem Kaffee auf dem Markt dann der Einzug in eine »echte« Pilgerherberge. Ein Achtbettzimmer in der Jugendherberge, aber ohne weitere Belegung zum Preis von achtzehn Euro.
Und das Gesamtbefinden? Morgens nahm ich eine halbe Ibu 600, die dann ein relativ lockeres Laufen ermöglichte. Gestern Abend und heute Morgen der Versuch, mit Rückengymnastik gegenzusteuern. Ab Mittag blockierte plötzlich ein Oberschenkelmuskel am linken Bein. So war ein Weitergehen nur mit der anderen halben Ibu möglich. Ich war ziemlich skeptisch, ob sich die Beschwerden noch geben würden. Zumindest mental und physisch war ich aber nicht so fertig wie an den beiden Tagen zuvor.
DONNERSTAG, 17. MAI 2018
Meiningen — Mellrichstadt (23 km)
Nach einem kleinen Einkauf in der benachbarten Kaufhalle gab es Frühstück mit Milchkaffee und Brötchen in der Jugendherberge – allein. Das dauerte nicht lange, und so wurde es ein zeitiger Aufbruch. Ich lief den Werra-Radweg in Richtung Süden bis zum Abzweig Sülztalradweg. Gegen halb zehn erschien es mir ein guter Zeitpunkt, die abendliche Herberge zu organisieren. Warum es nicht wieder bei den Kirchgemeinden versuchen? Das katholische Pfarramt in Mellrichstadt war immerhin als Ansprechpartner auf der Website der Via Romea verzeichnet.
Ich trug mein Anliegen einer Dame am Telefon vor: »Ich bin unterwegs auf Pilgerschaft auf der Via Romea. Können Sie mich unterstützen bei der Herbergssuche?« »Oh Gott, darüber weiß ich ja gar nichts«, erwiderte sie. »So eine Anfrage hatten wir ja noch gar nicht!« »Das ist komisch«, entgegnete ich, »das katholische Pfarramt ist ausdrücklich als Ansprechpartner für Pilgerunterkünfte angegeben.« »Wie bitte? Das kann doch gar nicht sein! Wo steht denn das? Na ja, ich bin Gemeindereferentin hier, ich muss das auch nicht wissen«, entschied sie. »Aber ich kann Sie mal mit der Pfarramtssekretärin verbinden, die weiß vielleicht mehr«, sagte sie und verabschiedete mich in die Warteschleife. »Ja bitte? Ach, Sie sind es! Ja, komisch, vor einiger Zeit hat schon mal ein Pilger nach einer Unterkunft gefragt. Wir hatten ihn dann beim Herrn Pfarrer untergekriegt, glaube ich. Aber so eine richtige Pilgerunterkunft haben wir nicht. Und der Pfarrer ist heute nicht da, und zwar den ganzen Tag nicht. Er kommt zwar mal kurz heute Abend, hat aber dann gleich wieder Termine. Und wenn der Herr Pfarrer nicht da ist, kann ich Sie nicht so einfach reinlassen. Warum gehen Sie denn nicht in ein Hotel?«
Nachdem sie ihre Abwehrschlacht beendet hatte, versuchte ich gegenzuhalten: »Das passt doch nicht! Pilgern, alles reduzieren, sich auf sich selbst besinnen. Da will man doch auch Menschen kennenlernen, in Gemeinden hineinschnuppern. Und nicht abends allein im Hotelzimmer fernsehen.« Und legte nach: »Auf Pilgerschaft will man doch auch das lebendige kirchliche Netzwerk erleben! Pilgern ist nicht nur Wandern, sondern hat auch eine geistliche Dimension. Es geht doch auch ein Stück um den Weg zu Gott!«
»Da haben Sie eigentlich Recht! Da müsste man in der Gemeinde direkt mal drüber reden … aber wie gesagt, ohne den Herrn Pfarrer kann ich nichts entscheiden. Und dann haben wir am Wochenende noch eine Primiz! Wir haben alle gerade unheimlich viel zu tun und keine Zeit! Ich weiß jetzt auch nicht, was ich machen soll …« Ich dachte: Vermutlich haben auch alle keine Zeit, wenn der Herr Jesus wiederkommt, sofern sie noch damit rechnen. (…)
Von einem überraschenden »griechischen Happy End« dieser Pilgeretappe und vom weiteren Pilgerweg lesen Sie nächste Woche hier. Oder Sie lesen es im Buch: www.eva-leipzig.de/product_info.php?info=p4926_Zu-Fu--zu-Franziskus.html
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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