Die Fülle ist ein Geschenk
Die Dresdner Kunstsammlungen zeigen noch bis Januar zum 150. Geburtstag Ernst Barlachs eine Ausstellung mit Skizzenbüchern, Zeichnungen und Holzskulpturen. Besonderes Augenmerk wird auf seine Dresdner Studienzeit gelegt. In dieser hat er sich in eine Dresdnerin verliebt.Alles, was ich wahrnehme, ist der Gedanke an Sie. Und das ist so süß. Kein prächtiges Kunstwerk kann das Herz mehr rühren als der lebende Ausdruck Ihres Gesichts … selbst die wenigen kurz angebundenen Worte, die Sie geben, haben mir süß in den Ohren geklungen.« Ernst Barlach (1870–1938) schreibt diese Zeilen als 21-Jähriger an eine junge Dresdnerin. Seit einem Jahr lebt er in der Stadt an der Elbe und besucht die Kunstakademie. Ein Studium an der Kunstgewerbeschule Hamburg hat er bereits absolviert.
Die junge Frau hat es ihm angetan, er schwärmt für sie und wartet sehnsüchtig auf ein Zeichen von ihr. Er könne nicht »die Augen wegwenden, wo ich ein Gesicht erblicke, ein Gesicht von einem so reinen, herzenswarmen Ausdruck, wie es einem Glückspilz alle Jubeljahre einmal begegnet.« Wahrscheinlich werde sie ihn auslachen, wenn sie die Zeilen lese. »Sie werden mich für närrisch halten und vielleicht nicht unrecht haben.«
Der Brief des jungen Barlach ist bei Familie Buschbeck in Dresden-Blasewitz erhalten. Aus dieser Familie stammte die Angebetete, in die sich der junge Künstler verliebt hatte. Dass seit dem Schreiben der Zeilen 130 Jahre vergangen sind, spürt nicht, wer den Brief heute liest, findet Dietrich Buschbeck. »Man kann ihn richtig verstehen und ihm nachfühlen.«
Deshalb war der Dresdner auch besonders neugierig auf die aktuelle Ausstellung im Albertinum. Sie ist Ernst Barlach zum 150. Geburtstag gewidmet. Die Staatlichen Kunstsammlungen zeigen bis Januar 2021 rund 230 seiner Werke, darunter 30 Holzskulpturen und andere Plastiken. Der Künstler, der zu den bedeutendsten deutschen Expressionisten gehört, wird in seiner ganzen Vielseitigkeit gezeigt – als Zeichner, Grafiker, Bildhauer und Schriftsteller. Anhand biografischer Daten und Stationen wird das gesamte Lebenswerk abgebildet. Urspünglich war die Würdigung im Frühjahr geplant, erklärte Hilke Wagner, Direktorin des Museums. Doch wegen der Corona-Pandemie konnte die Ausstellung erst im August eröffnet werden.
»Die Fülle ist ein Geschenk«, staunt Buschbeck. Der 84-Jährige suchte bei seinem Gang durch die Skulpturen und Bilder nach einer ganz bestimmten Figur: der »Krautpflückerin«, die Barlach 1894 schuf und in deren Zügen der Dresdner Barlachs junge Angebetete aus dem Liebesbrief vermutet. Die Bronzefigur gilt als Barlachs erste bedeutende Plastik. Er fertigte sie als Abschlussarbeit seines Studiums in Dresden an. Sie zeigt ein junges Mädchen in langem Kleid mit hochgestecktem Haar, es sammelt beim Laufen Blätter ein. Doch dass es sich bei der Bronze wirklich um die junge Dresdnerin handelt, dafür findet Buschbeck keinen Beweis. Die Ausstellungskuratoren vermuten in ihr eher eine Frau aus Friedrichroda.
Gezeigt wird im Albertinum auch das »Frierende Mädchen«. Die von Barlach 1917 in Holz gemeißelte Figur hat für die Kunstsammlungen eine besondere Bedeutung: Im Jahr 1920 wurde sie angekauft und gehörte 1937 zu den Werken, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden.
Barlach findet seine großen Motive und Themen erst spät: Auf einer Russlandreise, die er 1906 unternimmt. Aufenthalte in Paris und Florenz zuvor begeisterten ihn wenig. Quer durch das Zarenreich beobachtete er das Leben der Bauern und lernte die russische Volkskunst kennen. Es entstanden die Figuren, die ihn berühmt machen. Sie erzählen vom einfachen Leben, von Armut, Leid und Glück. Auch Barlach hat in seinem Leben die Einfachheit vorgezogen. Er wuchs in Mecklenburg auf und lebte bis zu seinem Tod in Güstrow. Im Dom hängt sein berühmter Engel mit dem Antlitz von Käthe Kollwitz.
Wäre noch die offene Frage zu klären – ob die beiden denn ein Paar geworden sind? »Nein«, sagt Dietrich Buschbeck. »Die junge Frau hat ihn abgewiesen.«
Dieser Artikel erschien im DER SONNTAG, Nr. 43 | 25.10.2020. Möchten Sie mehr lesen? Alle Sonntagsthemen finden Sie bequem in unserem Abo. Ob gedruckt oder digital – Verpassen Sie keinen Artikel mehr. Bestellen Sie jetzt unter: https://www.sonntag-sachsen.de/aboservice
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Impressionen Frühjahrssynode 2024
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
Zum Vergrößern hier klicken.
Weitere Impressionen finden Sie hier.