Die letzten Leser
Buchmesse: Bücher ohne Ende werden zur Leipziger Buchmesse vorgestellt. Doch jeder sollte seine eigene Lesespur suchen – so lange es überhaupt noch Bücher und Leser gibt.
Vor Kurzem saß ich mit einer Freundin aus Jugendtagen zusammen, die heute einen kleinen Verlag leitet. Eigentlich war es ein schöner Abend. Doch dann brach es aus ihr heraus: »Ich glaube, dass wir die Letzten unserer Art sind.« Ich erschrak. Sie setzte nach: »Wir lesen, schreiben und machen noch Bücher. Aber schon die nächste Generation erreichen wir nicht mehr. Meine Kinder lesen bloß, um mir eine Freude zu machen. Von selbst kämen sie nicht darauf.« Ich nickte, denn diese Sätze kenne ich aus meiner Kirche: Wir sind die Letzten, für uns ist bald kein Bedarf mehr, nach uns die Mediensintflut.
Doch Kulturpessimismus ist die größte Versuchung für die, die die Schwelle ins fünfte Lebensjahrzehnt überschritten haben. Ihr sollte man sich nicht hingeben, sondern widerstehen. Dazu besteht jetzt eine gute Gelegenheit: Die Buchmesse in Leipzig öffnet wieder ihre Tore. Die Bücherbranche zeigt, was sie hervorbringt: eine unvergleichliche Fülle von Büchern aller Gattungen, für jeden erdenklichen Geschmack, für alle Interessen. Auch wenn viele Neuerscheinungen bald wieder vergessen sind, werden andere ihr Publikum finden. Denn für viele Deutsche gehört das Lesen zu ihrem Leben. Ohne Bücher würde ihnen etwas Wesentliches fehlen.
Lesen ist eine seltsam schöne Tätigkeit: Man zieht sich zurück, setzt oder legt sich hin, folgt in großer Stille und im eigenen Tempo den Buchstaben, Seite um Seite, taucht in fremde Lebensgeschichten ein, entdeckt ferne Welten, lässt sich unterhalten und belehren, lacht, weint, denkt nach über das Gelesene und über sich selbst, das ganze eigene Leben. Man tut dies nur für sich allein, viele aber tauschen sich danach gern mit anderen über ihre Eindrücke aus. So hat das Lesen viel mit Versenkung, aber auch mit Gemeinschaft zu tun. Wer das Lesen so beschreibt, kommt wie von selbst zu religiösen Assoziationen. Es ist kein Zufall, dass der Protestantismus von Anfang an eine Lesekonfession ist.
Schaut man sich heute in Buchhandlungen um, entdeckt man viele Bücher, die zwar nicht direkt religiös sind, doch auf ihre Weise nach einem Sinn für dieses Leben suchen. Da sind Sehnsuchtsbücher über Bäume und Wälder, über eine Heimat, die als Gegen-Ort zur rationalisierten Moderne Geborgenheit schenkt. Da sind dicke Familiengeschichten über viele Jahre und Generationen, über die unendliche Suche nach Liebe und Vertrauen. Da sind Weisheitslehren, die Lust machen auf Anstand und Respekt, für ein besseres Leben werben. Und da sind immer wieder Gedichtbände, die eine ganz andere Sprache zur Welt bringen. Gerade weil sie so leicht übersehen und so schlecht verkauft werden, weise ich mit Nachdruck auf sie hin. In der Poesie zeigt sich am klarsten, was eine literarische Sprache in einem schön gestalteten Buch vermag. Besonders empfehle ich Uwe Kolbes »Psalmen« und Pia Trafdrups Gedichte über ihren dementen Vater mit dem Titel »Tarkowskis Pferde«.
Doch sollte man es mit der Bücherwerbung nicht übertreiben. Es gibt auch oberflächliche, nutzlose, dumme, kalte, verlogene, bösartige Bücher. Autoren und Leser sind keine besseren Menschen. Es kommt darauf an, was und wie man liest. Da kann eine Portion protestantischen Eigensinns nicht schaden. Denn die Macht des Marketings führt dazu, dass sehr wenige Bücher sehr viele Leser finden: Wer hat, dem wird gegeben. Das Ergebnis ist ein bedenklicher Konformismus.
Deshalb ist es so wichtig, dass jeder seinen eigenen Lesespuren folgt, mit Spürsinn und Entdeckerfreude dem nachgeht, was ihn selbst unbedingt angeht. Das muss keine Neuerscheinung sein. Ich habe mir gerade erst vorgenommen, das Werk von Jurek Becker durchzulesen.
Johann Hinrich Claussen ist EKD-Kulturbeauftragter
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