Der erste Stein
Polizisten trieben Menschen aus der Plauener Pauluskirche, selbst Jugendliche wurden stundenlang festgehalten, nachdem Steine flogen – wie konnte es dazu kommen? Eine Spurensuche.
Es ist, als hätten sie an ganz unterschiedlichen Orten gestanden. Erschrocken waren sie beide, aufgewühlt, aufgebracht – doch erzählen sie ganz gegensätzliche Geschichten davon. Die Polizei erzählt von »knapp 400 Linksautonomen«, aus deren Mitte sie am 1. Mai vor der Plauener Pauluskirche mit Steinen und Flaschen beworfen wurde. Der Pfarrer und viele Zeugen sprechen von friedlichen Gemeindegliedern, Demokraten und idealistischen Jugendlichen.
Erst war es sonnig an diesem 1. Mai, dann zog Gewitter auf. Plötzlich am Nachmittag, überraschend und wie aus dem Nichts, füllte sich der Vorraum der roten Backsteinkirche mit Polizisten. Mit heruntergelassenem Visier, in schwarz-grau gepanzerter Einsatzmontur. »Was wollen Sie hier?«, fragt Pfarrer Hans-Christoph Spitzner die Polizisten. Er sei angeherrscht worden: »Sie haben hier überhaupt nichts zu sagen!« Die Beamten trieben alle Menschen aus dem Gotteshaus auf die Straße. »So etwas hat es nicht einmal in der DDR gegeben«, beschwert sich Spitzner später beim Einsatzleiter. Wie konnte es dazu kommen?
Am Mittag, noch vor dem Gewitter, ist der Pfarrer guter Dinge. Endlich einmal hatten 2000 Vogtländer auf einer Demonstration ein klares Signal gegen einen Aufmarsch von rund 700 Neonazis gesetzt. Weil der braune Zug auch an seiner Kirche vorbeiziehen sollte, hatte er mit Eltern aus dem Gemeindekindergarten eine Mahnwache geplant. Als er die Sitzblockade erblickt, entscheidet er spontan: »Wir sperren die Pauluskirche auf, um einen neutralen Ort zu schaffen – und dass die Leute auch einmal auf die Toilette gehen können.«
Unter den Blockierern da draußen sieht Spitzner Kinder von Kirchvorstehern und Pfarrerkollegen, viele kennt er aus der Region. Fast alle sind friedlich, darunter ein paar Antifa-Anhänger, aber kein schwarzer Block.
Auch der Grünen-Landesvorsitzende Volkmar Zschocke sitzt vor der Pauluskirche auf der Straße. Auch er erinnert sich nur an eine friedliche Atmosphäre, Blockierer, die freiwillig leere Glasflaschen an Polizisten reichten – und zu der Stunde auch an freundliche Beamte, die ihre Helme absetzen, Menschen beruhigen. In der Pauluskirche blättern die Blockierer interessiert in den Gemeindeblättern, legen sie säuberlich zurück auf den Stapel und manche geben ein paar Münzen in die Kollektenbüchse, als eine Art Toilettengebühr.
Etwa zur gleichen Zeit errichten in unmittelbarer Nähe einige der Gegendemonstranten aus Baustellenzäunen und einem umgekippten Toilettenhäuschen eine notdürftige Barrikade, um dem Neonazis den Weg abzuschneiden. In der Tat wird durch die Blockade der Marsch vor der Kirche umgeleitet und verkürzt, die Polizei lässt die Blockierer gewähren.
Doch dann fliegen Steine und Flaschen auf die Uniformierten, so berichtet es später die Polizei. Mülltonnen brennen. Die vom Sonntag befragten Augenzeugen haben davon nichts bemerkt. Fakt ist: Die Eskalation beginnt. Und, so berichten es Zeugen, sie beginnt ohne Vorwarnung. So wie sich das Wetter an diesem Tag plötzlich wendet. Die Bereitschaftspolizisten dringen auf der Suche nach den Tätern plötzlich in die Pauluskirche ein, ohne den Pfarrer vorab zu informieren. Eine Richterin hatte vor Ort den Einsatz als rechtlich einwandfrei bestätigt.
»Wenn man Täter auf frischer Tat verfolgt, kann man nicht warten«, verteidigt der Sprecher der Polizeidirektion Zwickau, Jens Scholze, das Vorgehen. »In so einer Situation ist es nicht möglich, den Pfarrer vorher zu befragen.« Auch Pfarrer Spitzner räumt ein, dass sich drei oder vier der Täter in das Gotteshaus geflüchtet haben könnten.
Doch offenbar hat die Einsatzleitung keine konkreten Anhaltspunkte, wer die in der Masse versteckten Täter waren. Sie stochert im Nebel und treibt ohne Unterschied alle Menschen aus der Kirche hinaus, um ihre Personalien festzustellen – in der Hoffnung, auf Videoaufnahmen später die Täter entdecken zu können. Unter Verdacht stehen: alle.
Auf den Stufen vor der Pauluskirche spielen sich dramatische Szene ab. Rufe, Geschrei. Die Polizei habe die Menschen aus der Kirche gezerrt und die Treppe heruntergestoßen, um sie in den abgeriegelten Polizeikessel zu bringen, berichten Zeugen. Keiner von den Befragten kann sich an eine vorherige Aufforderung zur Räumung des Platzes erinnern. Eine junge Frau – dem Anschein nach eine Schülerin – sei von einem Beamten »unvermittelt am Hinterkopf gepackt und wieder hinuntergestoßen« worden, so der Grünen-Vorsitzende Zschocke.
Die Plauener Gemeindepädagogin Griseldis Büchner steht vor der Pauluskirche und will durch die Polizeikette. Einige der eingekesselten Jugendlichen – viele noch minderjährig – kennt sie aus ihrem Religionsunterricht und der Jungen Gemeinde. Sie ahnt, dass sie Angst haben, will sie herausholen.
Zu den Polizisten sagt sie: »Diese Jugendlichen gehören nicht zur Antifa, die meisten sind auch keine Linken – sondern das sind junge Menschen, auf die wir stolz sein können, dass sie sich politisch engagieren.« Die Antwort: Die Polizei nimmt die Personalien der Gemeindepädagogin auf, dann wird sie des Platzes verwiesen. »Manche Polizisten haben uns mit einer Abschätzigkeit angesehen, die mich tief getroffen hat«, sagt Griseldis Büchner.
Auf dem vom Gewitterguss aufgeweichten Fußweg vor der Pauluskirche beobachtet Pfarrer Hans-Christoph Spitzner, wie Polizisten die Taschen der Eingekesselten durchsuchen und den Inhalt in den Schlamm fallen lassen. Im Polizeikessel wird jeder Demonstrant fotografiert und registriert. Stunden müssen sie stehen, bis zum Abend. Mädchen, die sich im Plauener Jugendparlament engagieren, raten Polizisten, »sich das beim nächsten Mal etwas besser zu überlegen, wenn man mit 17 Jahren schon eine kriminelle Karriere beginnen will.« Dann fließen Tränen.
Viele der jungen Plauener vor der Pauluskirche waren am Morgen des 1. Mai mit dem Idealismus ausgezogen, etwas gegen eine menschenfeindliche Politik zu tun. Am Abend kamen sie mit einem Strafverfahren wieder heim.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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