Jahreskreis als Lebenshilfe
Innehalten: Der Jahreswechsel lädt zu Rückblick und Vorausschau ein. Der Wechsel der (Kirchen-)Jahreszeiten erweist sich dabei als Lehrmeister für ein zuversichtliches Leben.
Die Zeit strukturieren, sich heilsame Unterbrechungen gönnen, Feste feiern, Einkehr halten, zu sich kommen: Das bedeutet Frei-Zeit, heißt ausspannen, spielen, lachen, erinnern, träumen und sich besinnen. All das sind »Tugenden«, die – obwohl lebensnotwendig – in unserer heutigen Zeit angesichts der Fülle von Aufgaben, Verantwortung, Verpflichtungen, Spannungen in der Arbeit und Ängsten oft in Gefahr sind, in Vergessenheit zu geraten und in Hektik, Stress, Arbeit und Routine unterzugehen. Aber im Dienste unseres Wohlbefindens, unserer seelisch-geistigen Gesundheit tut es uns gut, Rhythmen, Pausen, Feste und Feiern wieder neu zu entdecken, zu pflegen und bewusst gestalten zu lernen. Das bewusste Begehen und Feiern der verschiedenen Zeiten und Feste des Jahreskreises im Kirchenjahr kann für uns zu einem das Leben bereichernden, ja heilenden Weg werden und dadurch große Bedeutung gewinnen. Denn das Jahr bietet mit seinen Festen eine bunte und umfassende Palette der Vielfalt von Lebenssituationen, Freuden und Krisen, wie sie im Leben eben vorkommen.
Schon in der Form des Zyklus – des Kirchenjahres-Kreises – liegt etwas Lebensnahes, Lebensbejahendes und Lebensförderndes: Das Kirchenjahr ist ein Kreis, der sich rhythmisch alljährlich wiederholt. Das bedeutet, dass im Laufe eines Jahres alle Punkte dieses Kreises, alle Feste, alle Einzelstationen dieses Zyklus »durchlaufen werden«. Keiner wird übersprungen. Auch das Gegensätzliche, das Ungeliebte wie das Beliebte, das Dunkle und das Helle kommen vor. Es gibt dabei also im Grunde kein »wichtigstes« Fest, keinen allein wichtigen Aspekt, kein herausragendes Geschehen, sondern jede Etappe, Erfahrungsweise, jede »Station« dieses Kreises steht gleichberechtigt neben den anderen: Alle sind mit der Mitte gleichermaßen verbunden, haben in diesem Kreis dieselbe Mitte und zugleich ihre Ausrichtung zur Mitte hin.
Jeder Aspekt unseres Lebens, jede Regung unserer Seele, alle freudigen und schweren Erfahrungen und die damit verbundenen Inhalte und Emotionen, alles ist in diesem großen Kreis des Jahres repräsentiert, aufgenommen und angenommen. So werden wir es im Folgenden entdecken. In dieser Erkenntnis liegt sehr viel Heilendes und Hilfreiches. Und wie alle Feste und Ereignisse im Jahreslauf Lebensereignisse symbolisieren, Erfahrungen gleichen, Gefühlen, Grundgegebenheiten, so stehen sie auch im Leben nebeneinander: Der Weihnachtsfestkreis mit der Feier der Freude und des Lichts im Dunkel, aber auch der Neuausrichtung des Lebens hin auf einen Leit-«Stern«; der Osterfestkreis mit dem großen »Stirb und Werde«, dem Leiden, Sterben und Aufstehen immer neu auch in unserem eigenen Erleben! Pfingsten mit der Geistkraft Gottes, die ursprünglich »Wind, Hauch, Atem« bedeutet, und uns auf Kraft, Liebe und Erneuerung verweist, und die Herbstfeste als Hinweise auf die Bedeutung der Dankbarkeit und die Beachtung der Endlichkeit als Lehren für »gelingendes Leben« …
Es zeigt sich bei diesem gerafften Überblick: »Der Jahreskreis als Lebenshilfe« mit seinen Besinnungsangeboten und Ritualen lässt nichts Wesentliches im Leben aus. Nichts muss tabuisiert werden, nichts bagatellisiert, nichts jedoch kann auch ungestraft ausgeblendet, ausgespart, verpönt oder gar verteufelt bleiben – aber auch nichts ist einzigartig herausragend und etwa ganz allein wichtig. Denn eine Überbewertung ebenso wie die Tabuisierung in bestimmten Bereichen dieser breiten Palette von Lebensäußerungen, wie sie das Kirchenjahr »feiert«, von bestimmten Bereichen des Gefühls, der Seele, des Lebens – solche Lücken oder Überakzentuierungen würden krank machen und seelische und soziale Störungen hervorrufen – so weiß ich aus meinen Erfahrungen im Bereich der Seelsorge wie der Psychotherapie. In diesem »heilenden Kreis« des christlichen Festjahres gehört alles dazu und ist alles unverzichtbar.
So ist der Jahreskreis Lebenshilfe, indem er jeden Aspekt des Lebens in die Gesamtheit, in die Gesamtgestalt des Lebens aufnimmt als Teilaspekte, von denen nur alle zusammen das Ganze ausmachen.
Wenn wir annehmen, dass Lebenshilfe oft in erster Linie darin besteht, durch »Beistand« in den verschiedenen Entwicklungs- und Lebensphasen den Lebensfluss in Bewegung zu bringen, in Bewegung zu halten, nicht zu blockieren, sondern vielmehr Blockierungen zu lösen, dann meint das Kirchenjahr im Grunde genau dieses. Leben heißt: im Fluss sein, in Bewegung sein, auf dem Wege. Und das Kirchenjahr ist ein alljährlicher Weg! Leben ist Fluss, Erstarrung ist Tod. Als Fluss von Leben, von Energie, von Säften, von Blut, von Gefühlen, von Ereignissen: So spielt sich Leben ab. Das ist sein Rhythmus und seine Struktur.
So betrachtet wäre Lebenshilfe zu definieren als »Hilfe zur Lebendigkeit«. Das gilt auch für Lebenskrisen: Auch sie sind Teil eines Weges, gehen oft einen spiraligen Weg, entwickeln sich fort. Und Krankheiten/Störungen/Probleme entstehen oft dort, wo Stagnation ist, wo Blockierung/Unterbrechung des Flusses ist – Erstarrung. So bedeutet Lebenshilfe meist Hilfe zum Durchstehen, zum Ertragen und Zulassen, zum Nicht-ablehnen oder -abwerten, zum Nicht-verdrängen dessen, was da ist. Alles darf sein, wie es ist.
Auch wenn das, was jetzt da ist, schwer ist, Leid und Not: Dann ist eben Schmerz da, Verzweiflung, vielleicht auch Todessehnsucht – oder aber eben Hunger nach Leben, Durst nach Freude – oder aber Hoffnungslosigkeit, Bitterkeit und Resignation. Und wenn Glück und Begeisterung da sind, dann ist da Leben in Fülle und Freude und Genuss, dann ist da Grund zum Fest, zum Singen, zum Tanzen und Freuen. Alles darf da sein in mir, vor und mit anderen und vor Gott!
Genau all dieses finden wir im alljährlichen Zyklus des Kirchenjahres dargestellt und ist darin beinhaltet, wird dort thematisiert: Alle Bereiche des Lebens werden berührt, für etliche Wochen eingehend vertieft, im Innehalten und Betrachten. Aber in diesem Kreis gibt es nichts, wo man auf Dauer stecken- oder stehenbleibt.
Denn es gibt ja nichts Festes. »Alles ist im Fluss« – wie schon Heraklit sagte. Darin wird wieder das Heilende deutlich: So wie das Jahr Rhythmen hat, hat auch das Leben, haben Beziehungen, Schicksale, je selbst Krisen Rhythmen, Muster und Strukturen. Und genau damit werden wir in den Zeiten des Jahres vertraut gemacht. Das entspricht der Weisheit westlicher und östlicher Spiritualität, der Mystik verschiedenster Zeiten und Kulturen, auch der Medi- tation als »Wahrnehmung dessen, was ist«: ich schaue zu, ich nehme wahr, ich bin Zeuge dessen, was in mir und um mich ist: Ich nehme es wahr, nehme es an und lerne, damit umzugehen.
Und der Jahreskreis ermöglicht uns genau das, übt es immer neu mit uns ein und bereichert so unser Leben: Er bietet und repräsentiert die ganze Fülle und Bandbreite dessen, was ist – im einzelnen menschlichen Leben wie in der Gemeinschaft und Gesellschaft und lehrt uns so, was gesegnetes Leben bedeutet auch im Sinne der Bibel: Dass Gott mit uns geht »auf allen unseren Wegen« (1. Mose 28,15) und »alles seine Zeit« (Prediger 3) hat.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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