Ihren letzten Leserbrief hat sie nicht abgeschickt. Über Jahre und Jahrzehnte waren ihre Zeilen regelmäßige Gäste in der SONNTAG-Redaktion. Schön geschwungen die Handschrift, der Absenderstempel: Ingrid Lewek, Radebeul. Mit 93 Jahren aber werden ihr die Zeilen schief, das Gefühl in den Fingerspitzen hat sie verlassen. Doch nicht die theologische Leidenschaft. Sie wollte auf einen SONNTAG-Artikel über Martin Luthers Auftritt auf dem Reichstag von Worms vor 500 Jahren reagieren. »Ich werde da immer ein bisschen scharf«, sagt Ingrid Lewek, eine schmale und liebenswürdige Frau, die so gar nicht scharf wirkt. »Den Satz ›Hier stehe ich, ich kann nicht anders‹ haben wir, obwohl Luther ihn definitiv nicht gesagt hat, in unseren Gemeinden so gerne bewahrt, er klingt auch gut deutsch – dabei wäre doch ein anderer Satz Luthers in Worms ein besseres Leitwort.« Sie meint diesen: »Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt.« Glaube und Vernunft – beide sind für Ingrid Lewek Gottesgeschenke.
Auf dem Bücherstapel in ihrem Wohnzimmer liegen die gerade viel diskutierten Neuerscheinungen der Schriftstellerin Juli Zeh (»ein bisschen geschwätzig«, findet Frau Lewek) und des Theologen Günther Thomas (»er spricht darin nur über die West-Kirche«, das ärgert sie ein wenig). Sie ist hellwach mitten in den Debatten der Zeit. Und sie freut sich, nach langer Corona-Ruhe einmal wieder eine Kaffeetafel decken zu können. Das Service ist mit grünem Weinlaub umrandet. Der SONNTAG wird 75. Vorsichtig schneidet Ingrid Lewek die Geburtstagstorte an.
Ihre Geschichte mit dem SONNTAG begann 1951. Als ihr Mann seine erste Pfarrstelle im vogtländischen Jößnitz antrat, gehörte die Kirchenzeitung dazu. Ingrid Leweks Geschichte mit dem Glauben hingegen begann schon viel früher. Als Mädchen in Chemnitz, das sich mit elf Jahren in einem Bibelkreis bei einer Volksschullehrerin in die Heilige Schrift verliebte. »Ich habe irgendwie ein religiöses Gen«, lächelt sie heute. »Meiner Mutter war das ein bisschen unheimlich.« Ihre Eltern gingen höchstens Weihnachten in die Kirche.
Als ihre Mutter starb und auch ihr Vater, war sie noch ein Kind. Ihr Bruder kehrte nicht aus dem Krieg zurück. Sie wuchs bei ihrem Onkel auf, einem Chemnitzer Arzt, der sich abends heimlich mit Gegnern der Nazis traf. Am 9. November 1938 sah das Mädchen Ingrid aus der Straßenbahn die Plünderung der jüdischen Kaufhäuser. Zu dieser Zeit predigte der Vorgänger des SONNTAG, das »Sächsische Kirchgemeindeblatt«, eine von »jüdisch-römischer Dogmatik gereinigte Christusbotschaft« ganz im Dienste des Nationalsozialismus.
Wochen nachdem der SONNTAG am 16. Juni 1946 gegründet wurde, begann Ingrid Lewek mit dem Theologiestudium in Leipzig. 50 Männer, acht Frauen. Als sie sich mit dem aus dem Krieg zurückgekehrten Mitstudenten Kurt Lewek verlobte, flüsterte man ihr von verschiedenen Seiten zu: »Wissen Sie, dass die Leweks Juden sind?« Es klang, erinnert sie sich, wie eine Warnung. Kurt Leweks Vater Ernst war Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche gewesen, ein sprühender Theologe, der es liebte, Wagner-Opern auf dem Flügel zu spielen – und ab 1935 mehrere Jahre KZ-Häftling. Er stammte aus einer jüdischen Familie. Wenn Jahrzehnte später im SONNTAG immer wieder über das christlich-jüdische Verhältnis diskutiert wurde, war Ingrid Leweks Stimme in Leserbriefen oft zu hören.
Pfarrerin durfte die Theologin als verheiratete Frau Anfang der 1950er Jahre nicht werden. Sie unterstützte ihren Mann im Pfarramt, zog vier Kinder groß, arbeitete im Landeskirchenamt für Familien und für den kirchlichen Fernunterricht Stud. Christ. Der Sonntag begleitete sie Woche für Woche. »Er war ja ganz klein«, zeigt sie mit den Händen das vom SED-System reglementierte Zeitungsformat. »Aber wir haben uns gefreut, dass die Kirche in irgendeiner Weise zu Wort kommen konnte – das war etwas wert in der DDR.«
Manchmal nannte Ingrid Lewek den SONNTAG damals den »Dienstag« oder den »Mittwoch«, weil ihn die Zensur mitunter schmoren ließ und die Post erst Tage später auslieferte. Und sie erinnert sich, wie die Abonnements der auf 40 000 Exemplare gedeckelten Auflage wie ein rares Gut weitervererbt wurden. »Aber aufregende Texte oder theologische Auseinandersetzungen gab es nicht im SONNTAG«, sagt die Theologin, die erst 1980 ordiniert wurde und danach als Seelsorgerin im Radebeuler Krankenhaus und in Pflegeheimen arbeitete. »Man hielt sich sehr bedeckt und wollte möglichst Einigkeit vorgeben gegenüber dem Staat.«
Heute ist das anders. Sehr viel anders. Wenn Ingrid Lewek am Donnerstag den SONNTAG aus ihrem Briefkasten zieht, liest sie zuerst: die Themen der Leserbriefseite. Kontroverse ist dort Programm. Und sie hat sich oft genug selbst mit eingemischt. In die Debatte um gleichgeschlechtliche Partnerschaften in Pfarrhäusern zum Beispiel, gegen ein allzu einfaches Bibelverständnis. Oder für den christlich-jüdischen Dialog. Was sie oft will: »Dass wir es uns nicht zu leicht machen.«
Am Freitagnachmittag ist dann ihre SONNTAG-Zeit. Sie liest fast alles in einer Ausgabe. Für den Freitagabend hebt sie sich die Andacht auf, für den Sonnabend die Predigtbetrachtung. Geärgert habe sie sich nie über den SONNTAG, sagt Ingrid Lewek. Höchstens über ein paar Leserstimmen. Ihr Telefon klingelt. Wieder ist einer ihrer Freunde am Apparat. Oft empfiehlt sie ihnen einen Artikel ihrer Kirchenzeitung. Der SONNTAG sei theologisch offener geworden, meint Ingrid Lewek, und das freut sie. »Christ-Sein ist auch eine Lerngemeinschaft unter der Führung Jesu.« Jeden Donnerstag, wenn sie den Briefkasten öffnet, öffnet sich für sie auch eine weitere kleine Etappe auf diesem Weg.
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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