Als die Stimmung kippte
Stimmungen: Jesus wurde am Palmsonntag hochgejubelt – und wenig später von der Menge verstoßen. Ähnliches kann heute über die Stimmung gegenüber Flüchtlingen gesagt werden. Dem kurzen Sommer der »Willkommenskultur« folgte eine beispiellose Krisenhysterie und rigide Abschottung. Die Medien sind daran nicht unschuldig. Über scheinbare und wahre Krisen.Als Jesus seinerzeit in Jerusalem einzog, huldigten ihm die Massen, breiteten Palmen und Kleider vor ihm aus und riefen »Hosianna dem Sohn Davids«. Nur wenig später hatte sich aber das Blatt gewendet. Jesus ist angeklagt, wird bezichtigt und vorgeführt. Doch es scheint noch eine Chance zu geben: die Passah-Amnestie. Pilatus stellt das Volk vor die Wahl, wer freikommen soll: der berüchtigte Barabbas oder Jesus, von dem es heißt, er sei ein Gerechter. »Aber die Hohenpriester und Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen« (Matthäus 27,20). Und so riefen die Massen: »Kreuzige ihn!« Und das Schicksal nahm seinen Lauf.
War Jesus zum Opfer von Populismus geworden? Die Evangelien sparen jedenfalls nicht mit dem Hinweis auf die Manipulierbarkeit der Menge. Es scheint den Mächtigen leicht zu sein, die Stimmungen zu drehen und zu wenden – wie es gerade passt. Hochjubeln und Verteufeln können da manchmal nahe beieinander liegen. Doch geschieht so etwas nur in der biblischen Vergangenheit?
Glaubt man dem Journalisten und Medienkritiker David Goeßmann, wiederholt sich derzeit gewissermaßen die populistische Palmarum-Falle Jesu. In seinem Buch »Die Erfindung der bedrohten Republik« analysiert Goeßmann ausführlich, wie sich in Deutschland die öffentliche Meinung angesichts des verstärkten Zuzugs geflüchteter Menschen im Jahr 2015 verändert hat. Die anfängliche »Willkommenskultur« kippte binnen weniger Monate in eine »Abschottungskultur«. Laut Goeßmann hat dieser Stimmungsumschwung aber weniger mit tatsächlichen flächendeckenden Problemen zu tun, als vielmehr mit einer verzerrenden Berichterstattung der Massenmedien. Denn obwohl vielerorts der Zuzug Geflüchteter gut gemeistert wurde, obwohl von einer Wirtschaftskrise keine Spur ist, obwohl sich in Umfragen eine Mehrheit für die Aufnahme Geflüchteter ausspricht, herrsche in der öffentlichen Wahrnehmung das Bild einer kurz vor dem Untergang befindlichen Republik – und zwar ausgelöst durch die Flüchtlinge.
Goeßmann sieht darin eine Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung. Das Bedrohungsszenario werde durch massive und hysterische Medienberichte geradezu herbeigeschrieben. »Wir erleben in den Berichterstattungen eine extreme Verzerrung der Realität«, so Goeßmann. Nach dem »kurzen Sommer der Willkommenskultur« hätten sich die Medien immer stärker auf negative Meldungen über Flüchtlinge konzentriert. Insbesondere wurde das pauschale Bild vom »kriminellen Flüchtling« erzeugt, indem über einzelne Straftaten überdimensioniert berichtet wurde. So konnte der Eindruck entstehen, dass eine enorme kriminelle Bedrohung existiere, was aber tatsächlich überhaupt nicht stimme.
Goeßmann rückt die Zahlen ins Verhältnis und bemerkt: »Die schiere Masse an Krisenberichterstattung und Angstnachrichten war erdrückend und musste verunsichern. So konnte der Hilfsimpuls der Bürger neutralisiert und entpolitisiert werden, während Abwehrmaßnahmen ohne Diskussion im politischen Schnellverfahren umgesetzt wurden (…).«
Insgesamt sei durch die Medien eine Schieflage der Wahrnehmung entstanden, erörtert Goeßmann: »Das Stimmungsbild, das der SPIEGEL präsentierte, funktionierte wie eine sich selbst verstärkende Echokammer. Es isolierte ›Sorgen‹ und ›negative Erfahrungen‹, die die Medien selbst immer wieder mit ihrer Berichterstattung über die kippende Stimmung forciert hatten, und übertrieb sie maßlos.«
Außerdem wurden die beispiellose Hilfsbereitschaft der Deutschen, die die Flüchtlinge willkommen hießen und die überraschend positiven Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen in Umfragen während des »Ansturms« vom SPIEGEL und anderen Leitmedien ausgesiebt und an den Rand gedrängt.
Der Regler der »bedrohten Republik« wurde von den Medien hochgedreht – zum Beispiel indem die Migrationsbewegungen in die EU massiv übersteigert oder die Aufnahmekapazitäten künstlich verknappt wurden. So seien letztendlich nicht – wie immer wieder behauptet – über 1 Million oder gar 1,5 Millionen Flüchtlinge 2015 aufgenommen worden, sondern lediglich 750 000. Denn verschärfte Abschiebungen, Doppelzählungen und Weiterreisen müssten mit berücksichtigt werden.
Immer wieder »rahmten« die Medien die Flüchtenden vorwiegend als Bedrohung und Krisenauslöser, so Goeßmann. Beispielsweise habe sich die ARD-Talkshow »Hart aber fair« zwischen August 2015 und Juli 2016 in 13 von 18 Sendungen mit der »Flüchtlingskrise« befasst, ohne einen Flüchtling als Gesprächsgast eingeladen zu haben. So konnten die eingeladenen Politiker oder Behördenvertreter die Situation durch ihre Sicht prägen – und diese war zumeist skeptisch bis negativ.
Nach und nach konnte durch diese Art der Berichterstattung der Eindruck vom »Kontrollverlust«, von der »bedrohten Republik«, vom »Flüchtlingsansturm«, von der »Überbelastung« und der »Alternativlosigkeit der Abschottung« erzeugt werden. Wenn immer wieder vom »bedrohten Wohlstand«, von der »Naivität des Helfens« oder vom »Verlust deutscher Kultur« geredet wird, setzt sich diese Sichtweise durch. Schließlich konnten Schlagworte wie »begrenzte Barmherzigkeit« und Parolen wie »Nie wieder 2015« das öffentliche Gespräch derart dominieren, dass die ursprünglich existierende Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in Passivität überging, so Goeßmann.
Doch warum wurde die »Willkommenskultur« durch eine derartig verzerrende Krisenhysterie der Leitmedien zerstört? Weil, so Goeßmann, dies im Interesse der herrschenden Politik ist. Denn mittels der Erfindung der bedrohten Republik konnte die neoliberale Politik, die Reiche reicher und Arme ärmer macht, verstärkt und gesichert werden. Der Schutz des freien Warenverkehrs und des EU-Binnenmarktes wurde demnach als wichtiger erachtet als die Solidarität mit Geflüchteten. Die Logik neoliberaler Politik könne nur zu einer Abschottungspolitik führen, denn Solidaritätsimpulse und Verantwortungsgefühl hätten darin schlicht keinen Platz.
Und so, bemerkt Goeßmann, wurden auch keine solidarischen Lösungen der »Flüchtlingskrise« gefunden, sondern der Krieg gegen flüchtenden Menschen erklärt: fragwürdige Abkommen mit »Türsteherstaaten« geschlossen, Flüchtlingslager jenseits der EU eingerichtet (»Höllenexperimente«) und die EU-Außengrenze massiv militärisch gesichert. Damit, so Goeßmann, sei zwar die vermeintliche »Flüchtlingskrise« gelöst worden, keineswegs aber die moralische Krise. Die besteht darin, dass die reichsten Staaten der Erde die brutale Behandlung von Flüchtlingen und ihren Tod auf ihren Fluchtwegen in Kauf nehmen und wenig bis gar nichts tun zur Behebung der Fluchtursachen. An diese eigentliche Krise würden Medien und Politik wenig erinnern.
Doch einer hält unermüdlich dagegen und setzt einen anderen Rahmen um die Flüchtenden: Papst Franziskus. Er sieht sie nicht als Bedrohung, sondern als Gottes Ebenbilder, als Menschen mit Recht auf Schutz und Leben. Bereits seine erste Reise führte ihn 2013 auf die Flüchtlingsinsel Lampedusa. Damals küsste er Geflüchtete und sagte: »Wir leben in einer Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens vergessen hat, des ›Mit-Leidens‹: Die Globalisierung der Gleichgültigkeit!« Er bat um die »Gnade der Tränen« über die Grausamkeit in der Welt und sagte: »Herr, auch heute noch hören wir deine Frage: ›Adam, wo bist du?‹, ›Wo ist dein Bruder?‹.«
Für Goeßmann ist Papst Franziskus die Zentralfigur für eine alternative, humane Weltsicht. Er erinnert an die Messe für Migranten, die Franziskus im Sommer 2018 im Petersdom abhielt – zur gleichen Zeit, als die Bundesregierung und die EU über eine verstärkte Flüchtlingsabwehr debattierte. Damals sagte Franziskus: Die einzige Reaktion auf die Krise der Flüchtlinge sei »Solidarität und Barmherzigkeit«. Flüchtlinge seien willkommen zu heißen und die Verantwortung fair zu teilen. Jene Hilfsorganisationen, die mit ihren Schiffen im Mittelmeer Flüchtende in Seenot retten, vergleicht er mit dem barmherzigen Samariter des Neuen Testaments.
Könnte es sein, dass wir uns derzeit gewissermaßen zwischen Palmsonntag und Karfreitag befinden? Dass wir uns zu entscheiden haben, ob wir »Gelobt sei der Sohn Davids, der Gerechte« rufen oder »Kreuzige ihn«? David Goeßmann legt das nahe. Denn er vergleicht die gegenwärtige Situation mit der von 1938. Damals sollte auf einer internationalen Konferenz in Évian die Auswanderung von Juden verbessert werden. Doch die USA hielten starr an ihrer Quote von jährlich 27 370 Einwanderern fest. So durften ein Jahr später von dem Schiff MS Louis mit 908 jüdischen Flüchtlingen nur 22 in die USA einreisen. Die anderen wurden zurückgeschickt. Die meisten verloren ihr Leben im Holocaust.
Goeßmann fasst zusammen: »Die EU-Abschottungspolitik unter deutscher Führung ist nicht alternativlos. Wir haben die Wahl. (…) Nachkommende Generationen werden später urteilen. Sie werden dann wohl wissen wollen, was mit den Flüchtlingen geschehen ist, für die wir keine Kapazitäten mehr hatten, weil sich das Katastrophenjahr 2015 nie mehr wiederholen durfte.«
David Goeßmann: Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden. Verlag Das Neue Berlin 2019, 464 S., 18 Euro.