Wir Berührungslose
Nähe und Abstand: Corona hat das soziale Miteinander stark verunsichert. Doch schon vor der Pandemie war Einsamkeit ein großes Problem. Nun gilt es, neue Wege zueinander und ein gutes Maß für Nähe und Abstand zu finden. Ein Gespräch mit der Journalistin Elisabeth von Thadden, Autorin des Buches »Die berührungslose Gesellschaft«.
Frau von Thadden, als Sie im Jahr 2018 Ihr Buch »Die berührungslose Gesellschaft« veröffentlichten, konnten Sie noch nicht ahnen, dass zwei Jahre später eine Pandemie fast alle Berührungen zur gefährlichen Angelegenheit macht und fast völlig verbannt. Dass uns Nähe fehlt und Einsamkeit ein großes Problem unserer Zeit darstellt, haben Sie bereits damals gezeigt. Wie blicken Sie heute auf unsere Gesellschaft? Hat die Corona-Pandemie die Probleme verschärft?
Elisabeth von Thadden: Gegenwärtig ist zu spüren, wie massiv die Verunsicherung durch Corona unsere sozialen Beziehungen durcheinander wirbelt und bestimmt, man braucht ja bloß zu erleben, wie nun eine Einschulungsfeier durch Vorsicht regiert wird oder wie ein Chor sicherheitshalber im Freien probt und konzertiert: alles wirkt und klingt da anders, man muss sich anders aufeinander beziehen. Aber die Verunsicherung geschieht eben auf unterschiedlichste Weise, nicht ausschließlich im bedenklichen Sinne. So berichten etwa Chorleiter und Körpertherapeuten auch von positiven Effekten des erzwungenen leiblichen Abstands. Die Ambivalenz erlebt ihre Krönung zur Regentin der Gegenwart. Mir scheint deshalb, dass wir uns jetzt vor falschen Verallgemeinerungen hüten sollten und stattdessen auf präzise Forschungsergebnisse gespannt sein können. Die Berührungsforscherin Beate Ditzen hat vor einem Jahr vermutet, dass die Pandemie bisherige Tendenzen verstärkt: Wer einsam ist, ist es nun umso mehr. Wer Angst vor Nähe hat, empfindet sie nun erst recht. Wichtig erscheint mir besonders der Faktor der Freiwilligkeit: Die Corona-Zeit hat uns verstärkt mit unfreiwilliger Nähe in beengten Wohnverhältnissen und unfreiwilliger Einsamkeit konfrontiert, und das ist nach allem, was die Forschung bisher hergibt, ein Faktor der seelischen wie leiblichen Gefährdung. Freiwillige Nahbarkeit und freiwillige Berührbarkeit sind die Errungenschaften der Moderne – und Corona hat uns auch auf deren Grenzen hingewiesen. Viele mussten es schlicht bedrängt miteinander aushalten – oder allein.
In Ihrem Buch sprechen Sie auch das Thema Sterbebegleitung an und beschreiben den Wunsch, beim Sterben die Hand eines Menschen zu halten, als eine wichtige humane Angelegenheit. Nun waren während der Corona-Pandemie viele gerade ältere Menschen abgeschnitten von ihren Angehörigen. Es heißt, es wurde vielfach einsam gestorben. Gab es dazu eine Alternative?
Diese Frage wird unsere Gesellschaft fortan begleiten, und die Erfahrung, Menschen nicht beigestanden zu sein, prägt sich tief in unsere Biografien ein: Denn in dieser Isolation von Alten und Kranken liegt etwas Barbarisches, eine wirkliche Zäsur in den oft beschworenen zivilisatorischen Werten. Meines Erachtens hätten von Beginn an die verfügbaren Schutzmittel – Masken, Kittel, Tests, Handschuhe – darauf konzentriert werden müssen, dass der Zugang zu den Bedürftigen erhalten bleibt. Das Lebensende ist, wie der Philosoph Giovanni Maio überzeugend darlegt, ein soziales Wechselgeschehen, wir leben und sterben in Beziehungen zueinander, und wer sie kappt, fügt dem Menschlichen schweren Schaden zu.
Welche Lehren sollten gezogen werden?
In meinen Augen weist uns das Virus auch darauf hin, dass wir nicht nur über das gute Leben, sondern viel mehr über das gelingende Sterben sprechen müssen. Nicht nur Corona, sondern die Pandemien generell werden uns künftig nicht einfach in Ruhe lassen. Es ist eine wirklich große moderne Errungenschaft, den vorzeitigen Tod unendlich vieler Menschen als vermeidbar zu begreifen und also zu verhindern – aber das menschliche Sterben bleibt dennoch eine Tatsache, mit der wir neu zu leben lernen sollten. Und dazu gehört eine umfassende Aufwertung aller pflegerischen und fürsorglichen Arbeit, der Palliativmedizin, der Hospizbegleitung. Intensivmedizinische Behandlung allein ist in vielen Fällen keine angemessene Begegnung mit menschlichen Bedürfnissen und mit der Würde des Menschen.
Im letzten Jahr ist viel von »Social Distancing« gesprochen worden – dem Bestreben, einander körperlich nicht zu nahe zu kommen. Der Nächste kam als potentieller Virusüberträger in den Blick. Was hat das mit uns gemacht? Und wie können wir die Angst voreinander wieder verlieren und Nähe neu lernen und zulassen?
Für mich gehört zu den aufschlussreichen Entdeckungen der Corona-Zeit die Forschung der Pariser Neuro-Philosophin Frédérique de Vignemont, die sich fragt, wie nah denn eigentlich »zu nah« für Menschen sei. Sie weist auf Grund ihrer Forschungsarbeiten mit einiger Gelassenheit darauf hin, dass Menschen immer schon die Kunst erlernt haben, zwischen Abstand und Nähe zu balancieren, wie übrigens die meisten anderen Lebewesen auch. Unerwünschter Nähe, die bedrohlich ist, versuchen sie immer auszuweichen: jede Katze, die sich nicht streicheln lassen will, macht es einem vor. Insofern ist Corona nicht einfach etwas Neues, sondern eine Variation des Bekannten und Gelernten. Und wir machen es uns jetzt besonders klar, wie sehr wir von Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis geleitet sind.
Und was folgt daraus?
Meines Erachtens liegt etwas spezifisch Neues der Corona-Zeit darin, dass jede und jeder sich selbst als gefährlich für andere begreifen musste und muss. Nicht einfach der naheliegende Selbstschutz, sondern vielmehr der Schutz der anderen vor einem selbst war und ist geboten. Ich bin gefährlich: Das muss man erst einmal begreifen. Darin liegt eine Parallele zur jüngeren Debatte um unerwünschte sexuelle Berührung: Männer mussten und müssen lernen, dass sie für Frauen eine Gefährdung des Wunsches nach Abstands bedeuten. Menschliche Nähe tut eben keineswegs automatisch gut.
Letztlich ist Berührbarkeit sicher immer eine Frage der Ausbalancierung: Es muss ausreichend Schutz vor Gewalt und Versehrung gewährleistet sein und gleichzeitig Offenheit und Nahbarkeit für das Zulassen von Berührung. Wie kann hier ein gutes Maß gefunden werden? Gibt es ein gutes Maß, wie ein geeigneter Umgang mit der »Berührungsangst« und der »Berührungsbedürftigkeit« des Menschen gefunden werden kann?
Allein die gemeinsame Suche nach dem guten Maß und der Genuss, wenn man es denn zusammen findet, sind historisch junge Kostbarkeiten des menschlichen Umgangs miteinander. Ebenso wie der Respekt vor Bedürfnissen und Ängsten. Er ist historisch jungen Datums und ist – langsam, Schrittchen für Schrittchen, mit entsetzlichen Rückschritten – erst in der modernen Epoche seit der Aufklärung entstanden, die Machtmissbrauch wahrzunehmen und zu ahnden begonnen hat. Die Frage nach der Nähe durchdringt ja jeden Lebensbereich: Zwangsgemeinschaften waren bis vor Kurzem in unseren Gesellschaften die Regel und sind es vielerorts auf der Welt noch heute. Wenn man sich das vor Augen führt, spürt man wie von allein die Qualität dessen, was ich freiwillige Nahbarkeit nenne. Sobald wir dafür offen sind, spüren wir die Freiheit von Machtmissbrauch. Sie ist in meinen Augen ein gutes Maß. Und in ihr kann auch eine neue Kultur des Zusammenlebens entstehen, die nicht mehr durch die maximale Zahl von Quadratmetern regiert wird, auf denen Unberührbare in ökologisch unverantwortlicher Weise heute leben.
Welche Hoffnungen haben Sie für die Zukunft?
Meine Hoffnung ist darauf gerichtet, dass Corona uns auch gelehrt hat, wie sehr wir verletzlichen Wesen aufeinander angewiesen sind und daher kluger Formen der freiwilligen Dichte und Nähe bedürfen. Die können wir erfinden, und viele neuartige Formen des gemeinsamen Bauens und Wohnens machen bereits vor, wie es geht. Vielleicht können wir die überall verwendeten Begriffe der Geimpften und Genesenen darauf metaphorisch übertragen: Wir können jetzt besser daran arbeiten, einander ohne Gefährdung nahe zu kommen.
Hintergrund
Im Buch »Die berührungslose Gesellschaft« diagnostizierte Elisabeth von Thadden 2018 den Trend, dass sich immer mehr Menschen zurückziehen und berührungslos in Einsamkeit leben. Mobilität und digitale Technik würden unseren leiblichen Abstand herstellen, schreibt sie. Daraus folge, dass viele Menschen in einem Zwiespalt zwischen Berührungsangst und Berührungssehnsucht leben. Eine Folge der zunehmenden Digitalisierung: »Das Optimale ist nie da, wo man ist, sondern anderswo – und wer leiblich anwesend ist, wirkt vergleichsweise imperfekt, begrenzt.« Demnach gilt es, einen Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit und dem Bedürfnis nach echter Beziehung und Begegnung (wieder) zu finden. Nähe und Geschütztsein müssten ausbalanciert werden.
Elisabeth von Thadden: Die berüh-rungslose Gesellschaft. Verlag C. H. Beck 2018, 205 S., 16,95 €.
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