Die andere Welt der Weihnacht
Gott bricht zu Weihnachten ein – in die Welt, in Raum und Zeit. Alles ist seither möglich – und wir sind in der Schwebe: Hoffende in Zeit und Ewigkeit.Mehr als einmal wurde mir als Kind in der Schule schlecht. Nicht wegen zu vieler Süßigkeiten im Bauch oder aus kopfloser Verliebtheit zur Banknachbarin, sondern über dem Stoff, den ich zu stark verinnerlichte. Eine der mich schwindelig machenden Aussagen stand am Anfang der Behandlung gebrochener Zahlen und war mit einer Frage verbunden: »Wie viele Zahlen gibt es zwischen Neun und Zehn?« »Unendlich viele« – diese Antwort raubte mir die Orientierung. Wenn alles teilbar war und die Teile wieder teilbar waren – was war dann noch sicher? Schließlich war das auf alles übertragbar: Zwischen jetzt und vorhin lagen unendlich viele Zeitabschnitte. Ein jeder Moment barg Brüche und Bruchstücke, Anfänge und Abschiede in einer unermesslichen Flut. An der Mainzer Akademie der Wissenschaften höre ich gelegentlich Vorträge zur theoretischen Physik. Ich verstehe wenig und doch genug, um ins Grübeln zu kommen. Inzwischen rechnet die Physik nicht mehr damit, dass die Zeit ein Ganzes sei, ein Strom und Vergehen. Sie ist überall im Universum anders und veränderlich, und es gibt sie vielleicht nur in uns. Auch was feste Materie sei, das ist ganz unanschaulich und fraglich geworden, seit immer kleinere »Teilchen« den Begriff vom »Teilchen« unterwandern.
Aber ist diese Unsicherheit des Menschen neu? Im Katharinenkloster im Sinai sah ich einmal eine tausend Jahre alte Ikone, die schon dieselben Fragen stellt, wie sie uns die Naturwissenschaft heute zumutet. Sie ist gemalt, als wollte jemand uns komplett verstören. Maria und ihr Neugeborenes liegen vor einer Höhle, und diese ist so vollkommen schwarz, dass einem schwindelt – wie ein Loch ins Bild gerissen. Ochs und Esel scheinen davor zu schweben, haltlos im Raum. Die Gesetze der Perspektive sind ebenso gebrochen wie der gewohnte Gang der Zeit. Denn wir sehen gleichzeitig Szenen, die nicht gleichzeitig sind: Johannes den Täufer etwa in der Wüste oder den kleinen Jesus in einem Badetrog. Ist hier alles ohne Zeit und überall? »Es gibt Verdichtungen des Seins, die ihren eigenen Gesetzen folgen und deshalb ihre eigene Form haben …«, so schrieb der russische Gelehrte Pawel Florenski von der Ikonenmalerei.
Das kommt dem Taumel nah, den ich als Kind empfand über den Bruchzahlen. Weihnachten wird hier herausgelöst aus allem, was Menschen denken können, aus aller Behaglichkeit, allem selbstgewissen Dusel. Nichts ist mehr sicher. In einer Nacht, einer Spanne von Stunden zwischen Dämmerung und Dämmerung, öffnet sich die Ewigkeit. An einem einzigen Ort nahe Bethlehem ist der ganze Kosmos gegenwärtig. In einem Säugling ist der unsagbare Gott ganz da. Wer soll das verstehen?
Wir Christen sind heute viel damit beschäftigt, das, was wir von Gott zu wissen meinen, unserer Welt zu vermitteln. Wir wollen verständlich machen, was wir glauben – und das heißt: einbetten in die Vorstellungen, die wir Menschen des 21. Jahrhunderts so haben vom Glück und von den Werten des Lebens. Die Ikone macht das Gegenteil: Sie durchbricht Raum und Zeit, sie zeigt ein Loch in der menschlichen Wirklichkeit. Fast möchte ich sagen: ein Pupillenloch. Denn darin schaut uns Gott an – und tatsächlich erinnert die Geburtshöhle auf der Ikone von fern an ein offenes Auge.
Eine radikale, geradezu physikalische Anderswelt im Glauben ist hier gemalt, eine verstörende Weihnacht. Die aber doch alle Angst nehmen kann – denn dieses Hoffnungsereignis setzt nicht mehr auf Menschenlogik, nicht auf Fortschrittsgedanken oder auf Niedergangsängste. Wer weiß denn, was Raum und Zeit sind? Hier aber zeigt sich der Gott selbst, der unaufhörlich Raum und Zeit bergend schafft. Ich höre ihn aus dem Höhlendunkel fragen: »Wieviel Zahlen gibt es zwischen Neun und Zehn?« »Unendlich viele« – denn alles ist gleichzeitig, alles ist überall, alles ist in der Schwebe über dem tiefen Auge Gottes zu Weihnachten.
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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