Wenn das Leben Brüche hat
Gegenbild: Perfektion, Gesundheit, Erfolg werden allgemein hoch geschätzt. Doch was ist mit den Brüchen im Leben von Menschen? Der Glaube bietet einen Ausweg aus der »Tyrannei des gelingenden Lebens«.Am liebsten hat es der Mensch, wenn »alles läuft« und »glatt geht«. Allgemein wird die Fitness, das Gutaussehen, das Erfolgreichsein, die Leistungsfähigkeit, das Potent- und Perfektsein als Maß der Dinge verkauft. Und mittlerweile wird das Bemühen um Selbstoptimierung von einer ganzen Industrie beliefert – von Angeboten zur Altersverhinderung über Fitnesskontrollgeräte, Nahrungsergänzungsmittel, bis zu Selbstfindungskursen. Die Theologin Gunda Schneider-Flume bezeichnet das als die »Tyrannei des gelingenden Lebens« – ein Hauptmerkmal unserer Gegenwart.
Unter der Hand wird damit eine Lebenshaltung wirkmächtig, die ein Problem hat mit dem Gegenteil des Perfekten: mit Schwachsein und Scheitern, mit Sterben und Kranksein, mit Altwerden und Abweichung, mit Unvermögen und Versagen, mit Fehlern und Leiden. Schneider-Flume weist auf die Folgen der »Tyrannei des gelingenden Lebens« hin – vor allem im Blick auf die ethischen Fragen am Lebensanfang und -ende. »Das Plädoyer für die so genannte Euthanasie als das menschenwürdige Sterben richtet sich auch gegen die Leidenden und bürdet ihnen die Schuld für ihr Leiden, mit dem sie nicht ›selbstverantwortlich‹ Schluss machen, auf«, schreibt sie in ihrem Buch »Leben ist kostbar«.
All das fordert auch die Kirchen heraus – denn in Frage steht ein ganzes Menschenbild. Wenn nur das eigenmächtig geleistete Gelingen des Lebens zählt – wo bleibt dann Gott?
Doch wie viel der allgegenwärtigen »Tyrannei des gelingenden Lebens« ist möglicherweise schon ins Kirchliche eingeströmt? Immerhin gibt es auch in kirchlich-christlichen Lebensvollzügen einen Hang zum Richtigseinwollen, zur Tadellosigkeit und zum Gelingen: Der Bund der Ehe hat lebenslang zu halten, man pflegt die hochkulturelle Musiktradition und möchte chorisch den perfekten Ton treffen, der Gottesdienst sollte nicht von Kindergeplärr gestört werden – und überhaupt bleibt man gerne unter seinesgleichen. Ist derjenige der Beste, der die kirchlichen Konventionen am vollständigsten einhält und eine weiße Weste vorzuweisen hat? Bisweilen, so könnte man meinen, möchte die Kirche eine perfekte Gesellschaft im Kleinen abbilden. Doch dabei geraten ihr der bewusste Umgang mit den Schattenseiten abhanden.
Auch auf evangelischer Seite steht die Umsetzung der berechtigten Anregung von Papst Franziskus vielerorts noch aus, der 2013 schrieb: »Mir ist eine ›verbeulte‹ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.« Die Kirche sei keine Zollstation, sondern das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.
Der evangelische Theologe Henning Luther (1947–1991) hatte bereits in diese Richtung gedacht und geschrieben: Nicht das Ganz- und Perfektsein des Menschen ist das, was ihn wesentlich ausmache, sondern »Momente des Nichtganz-Seins, des Unvollständig-Bleibens, des Abgebrochenen – kurz: Momente des Fragments«. Der gläubige Mensch könne seine Bruchstückhaftigkeit Gott hinhalten – und von ihm die Vollendung erwarten. »Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können.«
Damit erscheint der Mensch mit seinen biografischen Brüchen und Widersprüchen, seinen Beschädigungen und Begrenzungen, seinen Schwächen und Schicksalsschlägen als das, was er nun einmal ist: ein begrenztes, fragmentarisches, endliches Wesen, das der Ergänzung, Ganzwerdung und Erlösung bedarf. Diese Ganzwerdung soll und kann er nicht selbst leisten – das wäre ein Sein-wollen-wie-Gott. Vielmehr darf er sie von Gott erwarten.
Gott sollte nicht mit dem Gelingen zu verwechselt werden. Doch wenn der Glaube »Teilnahme an Gott« bedeutet, kann er Festigkeit gewähren – gerade in Situationen, die nicht als gelingendes Leben verstanden werden können, betont Gunda Schneider-Flume.