Der Mut der Gewaltlosigkeit
Erinnert: Der 9. Oktober 1989 ist das Kerndatum der Friedlichen Revolution: Ohne Gewalt wurde die Demokratie erkämpft. Ein kostbares Gut, das es heute zu verteidigen gilt.Das Foto (siehe oben) ist schon etwas vergilbt. Doch ich betrachte es immer wieder gern, weil es mir Kraft gibt. Es stammt vom 9. Oktober1989. Auf dem Boden der Berliner Gethsemanekirche sitzt Bischof Gottfried Forck neben dem Pult inmitten von gut 2000 Menschen. Gerade hat er unter ihrem Beifall die Freilassung von politisch Inhaftierten verkündet. Sie sitzen dicht gedrängt und doch in einer großen Gemeinschaft. Ein Bild, das sich in diesen Tagen und Wochen auch in vielen anderen Kirchen des Landes zugetragen hat.
Der spätere EKD-Finanzdezernent Thomas Begrich erinnert sich an die Menschen im Magdeburger Dom, »so dicht, dass keiner umfallen konnte«. Vor der überfüllten Dresdner Kreuzkirche standen Tausende, der Zuspruch von Christof Ziemer musste nach draußen übertragen werden. Wer dabei war, wird davon erzählen können. Auch, dass es zuerst die Kirchen waren, die die Menschen aufsuchten.
Den Demonstrationen waren die Friedensgebete vorausgegangen. Denn lange schon hatten die evangelischen Kirchen eine Friedensethik vorgedacht und gelebt. Ob in Plauen, Arnstadt, Halle oder Erfurt: Was die Menschen verband, war eine Mischung aus Mut und Angst. Angst vor der Ankündigung von Egon Krenz, gegen die Demonstranten mit der »chinesischen Lösung« vorzugehen. Doch der Mut siegte.
Genau darum ging es auch an jenem 9. Oktober, dem Kerndatum der Friedlichen Revolution, dem Tag der Entscheidung. Obwohl keiner wusste, ob geschossen wird, zogen 70 000 über den Leipziger Ring. Kinder waren nicht dabei, Ehepartner aus besagtem Grund zu Hause geblieben. Landesbischof Johannes Hempel hatte in den Innenstadtkirchen bei den Friedensgebeten den Menschen den Mut der Gewaltlosigkeit zugesprochen. Dann gingen die erlösenden Bilder, gefilmt im Turm der Reformierten Kirche von Siegbert Schefke und Adam Radomski, um die Welt: es gab kein Blutvergießen. »Keine Gewalt«, von den Demonstranten immer wieder gerufen, hatte gesiegt.
Als einen »beispiellosen Vorgang in der deutschen Geschichte nach zwei Diktaturen und Kriegen«, als ein »Wunder biblischen Ausmaßes« hat der Leipziger Nikolaipfarrer Christian Führer die Friedliche Revolution bezeichnet. Und: Gott habe seine schützende Hand »über uns alle, Christen wie Nichtchristen, Basisgruppen und Polizisten, Ausreisewillige, Regimekritiker, Genossen wie Stasi-Leute« gehalten.
Nicht alle Kirchen waren offen, es gab auch Kritik und Zögerlichkeit. Doch dann war es vor allem das, woran Friedrich Schorlemmer wiederholt erinnert hat: »Die Menschen setzten alles auf eine Karte, gewannen ihre Würde zurück und sahen, wie das System ökonomisch, politisch, moralisch am Ende war.« Und weiter: »Sie übten nach Jahrzehnten des Mitlaufens, Schweigens, Sich-Verbergens den aufrechten Gang und das offene Wort.« Der demokratische Wille, so schreibt er, verdichtete sich in dem Satz »Wir sind das Volk« und setzte sich mit Besonnenheit, Selbstbewusstsein, Zivilcourage und einer Gewaltlosigkeit durch, die ihresgleichen in der deutschen Geschichte sucht. Er war darum überzeugt: Die Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 mit ihrer friedensethischen Kraft der Kirchen als ein in der deutschen Geschichte einmaliges Ereignis ist wichtig, weil sie die Selbstachtung und das Selbstbewusstsein aller Deutschen stärkt.
Doch was heißt das heute? In ihrer Ansprache auf der Demonstration in Leipzig eine Woche vor den Landtagswahlen in Sachsen hat Ruth Misselwitz als Vertreterin der »Stiftung Friedliche Revolution« darauf die Antwort gegeben: »Das kostbarste Gut, das wir erkämpft haben, ist die Demokratie.« Genau die müsse heute verteidigt werden. Demokratie sei ebenso »vielversprechend wie anstrengend«. Und sie forderte: Geben wir diese Errungenschaft nicht aus unseren Händen. Aktueller kann die Botschaft für den 9. Oktober 2024 nicht sein.
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