Pflege unterm Helm
Pandemie: Hinter Schutzkleidung kämpfen Pfleger wie Philipp Krause in Dresden um das Leben von Corona-Kranken – nicht immer erfolgreich. Manche werden selbst dabei krank.Irgendwann hört Philipp Krause auf, seinen Patienten zu sagen: »Das wird schon wieder.« Irgendwann ist er erleichtert, wenn er nicht mehr in diese Augen sehen muss. In diese Panik, in diese Angst. Irgendwann in diesem Corona-Winter funktioniert der Pfleger nur noch. Bis er nicht mehr funktioniert.
Philipp Krause ist gern Krankenpfleger. Ein stiller Mann, in dessen Familie alle soziale Berufe haben und für den Nächstenliebe keine fromme Floskel ist. Der 38-Jährige ist stellvertretender Stationsleiter einer Intensivstation in einer Dresdner Klinik. Als die erste Corona-Welle im vergangenen Frühling durch das Land zieht, schwebt sie nur als eine dunkle Vorahnung über ihm.
Als die zweite Welle im November anhebt, kommen die ersten Covid-Patienten in die benachbarte Intensivstation. Es fehlt Personal, also hilft Philipp Krause aus. Und steckt sich kurz darauf an. Der Kopf schmerzt, er fühlt sich abgeschlagen, sein Geruchssinn schwindet. Das Virus springt auf seinen kleinen Sohn über. Und mit dem Virus kommt die Angst. Philipp Krause verdrängt sie. Nach zwei Wochen Quarantäne geht er wieder in die Klinik. Er wird ja gebraucht. Er funktioniert.
Die Welle wandelt sich zur Flut. Und füllt in kürzester Zeit Krauses Intensivstation. Draußen ist Weihnachten. Alle 20 Betten sind mit Corona-Patienten belegt und zwei Zusatzbetten auch. »Man denkt immer, wir sind vom Fach – aber in dieser Situation ist niemand vom Fach«, sagt Philipp Krause. Pfleger und Ärzte tasten sich Stunde für Stunde, Tag für Tag in unbekanntes Land. Für jeden Gang an ein Krankenbett müssen sie Helm, Kittel und Handschuhe überziehen.
Und so treten sie an ihre Patienten. Über dem Kopf ein geschlossenes Visier mit Schlauch und laut surrendem Lüfter. Das Hören ist schwer und das Reden auch. Ihr Gesicht ist kaum zu erkennen. »Man spürt die Ängste bei den Patienten, aber man ist unbeholfen, man sieht aus wie ein Raumfahrer – wie will man ihnen die Angst nehmen, wenn man ihnen so gegenübersteht?« Und wenn man selbst hilflos ist, sagt Philipp Krause. »Da sind plötzlich Berührungsängste, die ich sonst nie hatte.«
Jeder Arbeitsschritt muss gut geplant sein und dauert doppelt so lang. Schwitzend unter der Schutzkleidung und im Lärm des Lüfters im Helm Kranke waschen und drehen. Die Panik in den Augen der Patienten sehen, die mit Überdruckmasken beatmet werden und nach Luft ringen. Ihre Einsamkeit. Und was man ihnen schuldig bleibt. Besuche von nahen Menschen sind nur im Sterben zugelassen, oder danach. Den Familien am Telefon kann Philipp Krause ein ums andere Mal nur die Auskunft geben: »Ihr Angehöriger ist auf niedrigem Niveau stabil.«
Nur ein einziges Mal in dieser Zeit kann er das tun, was für ihn ein Pfleger auch tun sollte: einem Patienten zuhören, ihm die Hand halten. »Ich will nicht sterben«, sagt ihm der betagte Mann. Der Mann stirbt wenig später. Krause funktioniert.
Er führt für sich Zwiegespräche mit Gott. Aber er kann aus ihnen in diesen Tagen keine Kraft ziehen. »Ich musste mit meinen Energien so haushalten, dass ich mir viele Sinnfragen nicht stellen konnte.« Das Gebot der Nächstenliebe bleibe für ihn ein treibender Grund, sagt Philipp Krause. »Meine Energie habe ich daraus gezogen, dass es Menschen gibt, die an ihre Grenzen gehen aus einer Verpflichtung für andere Menschen heraus.«
Es sind seine Kollegen. Pfleger, Ärzte, Physiotherapeuten. Er weiß, dass viele wie er auf dem Zahnfleisch gehen. Dass viele wie er noch Sorgen um Kinder mit Schulunterricht zuhause haben. Manche als Alleinerziehende. Manche als Hauptverdienerin, während ihr Mann ums Überleben seines Geschäfts im Lockdown kämpft. Einige stecken sich mit Corona an. Und viele haben Angst wie er, das spürt Philipp Krause als stellvertretender Stationsleiter. Er kann ihnen diese Angst nicht nehmen.
»In dieser Zeit bin ich meinen Verpflichtungen auch meinen Kollegen gegenüber nicht nachgekommen. Ich hatte kein Ohr für sie, wie ich es haben sollte.« Denn Krause muss neues Personal suchen. Pfleger aus anderen Bereichen der Klinik springen ein. Und über ihre Ängste. Personal ist immer knapp in der Pflege. Corona macht es noch knapper.
Seit Philipp Krause 2007 mit seiner Arbeit als Krankenpfleger begann, sei die Zeit für die Arbeit mit Patienten im Gleichschritt mit der Personalstärke immer knapper geworden, erzählt er. Dafür wächst der Aufwand für Dokumentationen und der wirtschaftliche Druck. Es gibt mittlerweile zu wenige Menschen, die in der Pflege arbeiten wollen. »Wertschätzung kommt nicht bei uns an«, sagt Philipp Krause. »Uns fehlt eine Lobby für die Pflege, unsere Interessenvertretung ist schlecht organisiert.« Unter denen, die wie Philipp Krause an vorderster Front die Pandemie bekämpfen, steigt der Frust. Und die Enttäuschung. Nach der Schicht hören sie im Bekanntenkreis und lesen in Sozialen Netzwerken: Corona sei doch gar nicht so schlimm. Oder: Augen auf bei der Berufswahl! Oder: Die Alten könnten doch ruhig sterben! »Das macht mich krank«, sagt Krause. Er wird dünnhäutiger, reizbarer.
Er erlebt Patienten, deren Zustand sich bessert. Zu wenige. Er erlebt Menschen, die bewusst den Weg wählen zu sterben, anstatt künstlich beatmet zu werden. Umgeben nur von Menschen in Kosmonautenhelmen. Irgendwann Ende Dezember sieht Philipp Krause einen Leichnam in einem schwarzen Sack und es berührt ihn nicht mehr. Das ist der Nächste, denkt er nur. Er funktioniert.
Einen Tag nach Neujahr hat Krause frei, doch er springt ein. Ein junger Mann, vor Wochen noch kerngesund, liegt seit Beginn der zweiten Corona-Welle auf seiner Intensivstation. Die Ärzte und Pfleger versuchen alles, damit er keine künstliche Beatmung braucht. Denn dann, wissen sie, stehen die Chancen nur noch 50:50. Sie kämpfen, er kämpft. Die Pfleger in ihren Raumanzügen sagen ihm: »Das wird schon.« Der junge Mann hat Angst, kann nicht mehr schlafen, kein vertrauter Mensch ist um ihn. An diesem 2. Januar verlieren sie diesen Kampf. Er braucht die künstliche Lunge.
Nach Dienstschluss spürt Philipp Krause eine Enge in seiner Brust. Dazu eine tiefe Müdigkeit und Unruhe zugleich. Jetzt kann er nicht mehr schlafen. Eine Folge seiner Corona-Erkrankung. Und des Kampfes als Pfleger gegen Corona. Er kann nicht mehr.
Es fällt ihm schwer, das hinzunehmen. In den Januarwochen darauf beginnt er, nicht mehr nur zu funktionieren. Er schreibt auf, was er erlebt hat, um es zu verstehen. Seine Intensivstation hat Ende Januar keine Corona-Patienten mehr. Er wird wieder arbeiten. Er wird wieder Patienten haben, die sich mit Handschlag und einem Danke von ihm verabschieden werden. Er weiß, dass sich das jederzeit ändern kann.
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