Tasten nach dem ferngerückten Gott
Christian Lehnert sucht in seinem Buch die Spuren Gottes in einer gottlos gewordenen Welt – und verteidigt den fremden Gott
Lange ist es her, dass es am Sonntagmorgen nur eine Beschäftigung gab: den Gottesdienst. Heute steht da anderes an: Ausschlafen, Brunchen, Ausflüge. Selbst unter Christenmenschen ist der Gottesdienst aus der Mode gekommen. Das von den Kirchenoberen ausgegebene Ziel, zehn Prozent der Gemeindeglieder im Gottesdient zu versammeln, ist vielerorts in weiter Ferne. Der Gottesdienst wirkt heute wie ein musealer Nachhall aus früheren Zeiten.
In dieser Situation macht sich der Leipziger Dichter und Pfarrer Christian Lehnert ans Werk, um den heutigen Sinn des christlichen Kultes und Gebets auszuleuchten. In seinem Buch »Der Gott in einer Nuß« folgt er dem Ablauf des Gottesdienstes – von der Eröffnung »im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« bis zum Gebet »Christe, du Lamm Gottes ...«
Lehnert hat dazu eine lose Sammlung essayistischer Texte zusammengestellt. Es sind historische und theologische Erklärungen der Gottesdienstinhalte. Und es sind immer wieder feinsinnig erzählte Begebenheiten aus seiner Zeit als Dorfpfarrer in Ostsachsen. Diese Geschichten stechen heraus. Sie zeigen, wie der Pfarrer heute eigentlich eine Figur ist, die wie aus der Zeit gefallen wirkt – Verwalter eines kaum mehr verständlichen Glaubensinhalts, ein Fremder in der »postreligiösen« Welt. Doch der Pfarrer und das fremdgewordene Religiöse irritieren noch. Unerklärliche Erfahrungen mit der anderen Welt und die offenen Fragen nach Gottes Führung und Erlösung geistern herum. Das nimmt den Pfarrer – und auch den Dichter – in die besondere Pflicht, die Welt offen zu halten auf das Jenseitige hin.
Es kostet einige Anstrengung, sich durch den sprachlich dichten Assoziationsstrom Lehnerts zu lesen. Aber es regt an zu fragen: Wie sehr »sprechen« die Formen des ferngerückten christlichen Glaubens heute noch? Lehnert verschweigt dabei nicht seinen Glauben, bekennt ihn sogar auf sehr persönliche und poetische Weise. Doch er geht hart mit aller Oberflächlichkeit der Kirchen ins Gericht. Er wehrt sich gegen jene Formen des Glaubens, die auf das Wohlfühlen und das Beruhigen von Fragen abzielen. Die »gnadenlose Einfalt« und »blinde Vereinswärme« eines formelhaften und routinierten Gottesdienstes sind ihm ein Graus.
Dagegen sieht Lehnert gerade in der Fremdheit der Liturgie eine Chance, die eindimensionale Wirklichkeit zu öffnen auf Gott hin. Christsein heißt für ihn: »Ich begebe mich hinein in einen Strom, der sich durch die Zeit zieht, im Gefälle auf eine kommende Welt zu.« Und das gehe nur, indem alles Begreifen überstiegen wird – und man nicht fertig wird mit dieser Welt. Die religiöse Existenz sei dabei ein Sprung ins Ungewisse. Lehnert nimmt die Zweifel ernst – sie entstehen im Angesicht des Leides. »Nur eines gilt: Nichts in der Hand zu haben. Ich glaube – ein verwandeltes Weinen.«
Gegen alle Vereinfachungen hat Lehnert ein mystisches Gedankennetz gesponnen, das den Leser in eine spirituelle Suchbewegung verwickelt. Es wird deutlich: Die richtige Deutung des Christlichen kann nur der Einzelne in seinem Leben geben.
Christian Lehnert: Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet. Suhrkamp Verlag 2017, 237 Seiten, 20 Euro.
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