VON DEN WALNUSSSCHALEN
Wir waren an diesem Tag noch nicht weit gekommen, da gelangten wir an einen blühenden Walnussbaum, der seine Äste in die Himmel ausstreckte.
Der Meister schaute die Krone des Baumes an und hob dadurch auch unsere Blicke nach oben. Schließlich hieß er uns, die Augen zum Erdboden wieder zurück zu lenken. Da lagen zwei leere Nussschalen.
Er sagte: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde! Sehet dort diese hohle Nuss, welche die Kälte des Winters in zwei Hälften gespalten hat. Sie, die einst eins war, liegt nun in zwei Teilen vor uns am Boden.“ Und siehe, er nahm die beiden leeren Nussschalen behutsam an sich, legte sie ineinander und barg das doppelte Schifflein im Bausch seines Gewandes. Dann sprach er: „Lasset uns sehen, was wir mit zwei Hälften anfangen werden. Vorerst seien sie uns Zeichen für die kommende Reise. Denn es gilt, Leeres zu erfüllen. Was zu voll ist, muss ausgeleert werden. Und oft kann Leere nur mit zusätzlicher Leere neu erfüllt werden. Weil das Erfüllte durch noch Erfüllenderes ausgeleert wird.“
Sofort suchten einige von uns mit den Augen den Erdboden ab, ob nicht auch wir eine hohle Nuss fänden. Aber wir fanden keine. Da zupfte er von den Walnussblüten einige ab und gab sie uns. Dabei sagte er: „Nehmet einstweilen diese Blüten von mir.“
Wir hielten die Blüten in der Hand und wagten den ganzen Tag über nicht, sie fortzuwerfen. Erst als es finster geworden war und keiner mehr etwas sehen konnte, ließen wir sie den Fingern unbemerkt wieder entgleiten. Viele Stunden hatten seine Blüten an unseren Handflächen gehaftet. Und die hatten von den Blüten nun dunkle Flecken bekommen.
Auf diese Art prägte sich uns der Beginn des Weges unvergesslich ein. Jenes Weges, den wir zu gehen hatten: Die Witwe des verruchten Verräters Judas aufzusuchen, um sie zu trösten. Er wollte es so und nicht anders. Oft noch lernten wir wichtige Dinge durch scheinbar unwichtige Sachen.
(aus dem Lazarusevangelium 2,1ff)
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