Mitgeschöpfe ausgeblendet
Tiere: Die Skandale der Fleischindustrie zeigen, wie wenig heute das Tierwohl gegenüber dem Gewinnstreben gilt. Die Kirche ist bei diesem Thema merkwürdig still. Hat sie die Mitgeschöpfe vergessen?Für kurze Zeit stehen sie derzeit wieder einmal vor Augen: die skandalösen Zustände in deutschen Massentierhaltungen und Schlachtfabriken. Ein Schrei der Empörung geht durch das Land, vor allem bezogen auf die Ausbeutung von Werkarbeitern in Großschlachthöfen. Doch dahinter kommen auch die Haltungs-, Transport- und Schlachtbedingungen für die Nutztiere unter gnadenlosen Marktgesetzen zum Vorschein.
Dabei hatte erst vor wenigen Wochen der Deutsche Ethikrat eine stärkere Beachtung des Tierwohls in der Nutztierhaltung gefordert. Es sei eher die Ausnahme als die Regel, dass die Vorgaben des Tierschutzgesetzes bei der Haltung von Nutztieren eingehalten würden, kritisiert das Gremium. Dabei setze das Tierwohl den Nutzungsinteressen des Menschen Grenzen, so der Ethikrat. Allerdings würden diese Grenzen ständig überschritten. Der Ethikrat mahnt deshalb grundsätzliche Veränderungen an. Es reiche nicht, allein an die Konsumenten zu appellieren. Es müsse vielmehr von der Politik ein Strukturwandel hin zu einer ethisch vertretbaren Nutztierhaltung in Gang gesetzt werden.
Doch der Politik wird ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Es gebe ein »massives Vollzugsdefizit« zwischen Tierschutz auf dem Papier und der Praxis der Nutztierhaltung, klagt der Jurist Steffen Augsberg vom Ethikrat. Insbesondere werden andauernde Verstöße in der Geflügel- und Schweinehaltung – beim »Kükenschreddern« und der »Kastenstandhaltung« – beklagt. Diese würden nicht nur gegen den Tierschutz, sondern auch gegen geltendes Recht verstoßen. Durch »jahrelange Übergangsregelungen« wird weiter ermöglicht, was abzulehnen sei, mahnt die Ethikrat-Vorsitzende Alena Bux. So soll die »Kastenstand«-Haltung trotz ihres gerichtlichen Verbots weitere 17 Jahre zugelassen bleiben. Ebenso wurde 2018 das bereits 2013 angemahnte Verbot der betäubungslosen Ferkel-Kastration auf Ende 2020 verschoben.
Dabei lauert in der heutigen Tierhaltung noch ein ganz anderes Problem. Unsere Massentierhaltung sei so extrem unnatürlich und unhygienisch, dass sie nur mit dem flächendeckenden Einsatz von Antibiotika einigermaßen »in den Griff« zu bekommen sei, erläutert der Experte und Sachbuchautor Bas Kast. »Die gestressten und gequälten Tiere würden sonst erkranken und vorzeitig verrecken«, schreibt er und warnt, dass auf diesem Wege ein Bazillus herangezüchtet werde, gegen den kein Antibiotikum mehr helfe. Sein Fazit: »Das billige Schnitzel gibt es jetzt. Die in jeder Hinsicht teuer bezahlte Pandemie kommt später.« Während die Regierung in eilig einberufenen Krisengipfeln die Einführung einer Tierwohlabgabe und das Verbot von Sonderangeboten auf Fleisch erwägt, halten sich die Kirchen bei diesem Thema zurück. Zwar hat die EKD im letzten Jahr das Impulspapier »Nutztier und Mitgeschöpf!« veröffentlicht, in dem zum Schutz des Tierwohls eine Ernährungswende gefordert wird. Doch ist die Stimme der Kirche darüber hinaus bei diesem Thema derzeit kaum zu vernehmen. Allenfalls einzelne Theologen mahnen bessere Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen an.
Es könnte sein, dass Kirche und Theologie in einer Blindheit gegenüber den Tieren gefangen sind und sich grundsätzlich nicht wirklich zuständig fühlen für das Leid der Kreatur – das jedenfalls kritisiert der Dortmunder Theologe Thomas Ruster, der eine grundsätzliche Umkehr der Kirchen hin zu den Tieren fordert (siehe Seite 3). Mit dem bequemen Verweis auf Bibelstellen, die die Nutzung von Tieren erlauben, sei es nicht getan. Um der maßlosen Ausbeutung der Tiere in der heutigen Tierindustrie zu begegnen, müsse die Kirche ihre Tiervergessenheit überwinden.
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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