Der Himmel über allen
Reisezeit: Seit dem Start des 9-Euro-Tickets sind viele Menschen mit dem öffentlichen Nahverkehr unterwegs. Eine Gelegenheit für Begegnungen.
Wir wollen los. Pfingstmontag, gleich nach dem Gottesdienst geht es zum Bahnhof. »Frankfurt am Main« ist das Ziel. Der Zug rollt ein, Maske auf, Platz suchen. Wir sitzen da, eine Tasche voll mit Proviant steht zwischen uns. 9-Euro-Ticket, die Bahn-App bietet nur Nebenstrecken an. Der Zug füllt sich, es ist Rückreisetag. Die Leute sprechen wenig, die Regionalbahn dieselt vor sich hin, Köpfe nicken im Takt der Schienen.
Umsteigen Richtung Berlin. Der Bahnsteig ist voller Menschen, Kinder mit Rucksäcken und viele Fahrräder sind unterwegs. Der Regionalexpress rollt leise ein. Jemand schiebt, mit Drängen passen alle in den Zug. Mein Sitzplatz ist ein Geländer, ein Koffer im Rücken meine Lehne. Geht doch. Und die Leute, die immer wieder zusammenrücken, entdecken neue Sitzplätze. Selbst zwischen den Wagen sitzen sie auf Koffern und Taschen, werden lautstark durchgeschüttelt. Die Klimaanlage schuftet über meinem Kopf. Manchmal tropft Kondenswasser auf mein Buch, lesen geht. »Ich möchte auch noch rein«, ruft jemand vom Bahnsteig, »ich will doch auch nur nach Hause, wie ihr«. Wieder zusammenrücken. Jemand hört Musik und summt mit, einer motzt und pöbelt gegen die Bahn, »lass mal sein«, besänftigt eine Frauenstimme.
Umsteigen in Berlin. ICE? Wir bleiben bei der Regionalbahn. Mit kräftiger Verspätung geht es weiter Richtung Magdeburg. Die 9 Euro sind schon seit Stunden abgefahren. Wir reisen kostenlos. Der Proviant wird ausgepackt. Im fast leeren Zug legen wir die Beine hoch. Die Havel begleitet uns. Abendsonne glitzert im Wasser. Ich hänge am Fenster, bin begeistert. In Magdeburg ist Pause. Übernachtung in Bahnhofsnähe. Pfingstmontag abends: Dom, Hundertwasserhaus, manchmal bummelt eine Straßenbahn durch die Straße. Eine Pizza gibt es auch noch. Wir sind die einzigen und die letzten Gäste.
Morgens geht es weiter. Vorräte einkaufen, der Tag wird lang. Vor uns: Luthers Heimatland mit rotem Mohn, Abraumhalden wie Kegel. In Sangerhausen ist der nächste Umstieg. War da nicht irgendwas mit Bauernkriegen und Hexenprozessen? Egal, ein alter Lokschuppen und ausrangierte Luxuswagen der Bahn schieben sich in das Blickfeld. Dann schaukelt die Bahn gemütlich und der Ausblick über Hügel und Senken füllt die Zeit. Entlang der Werra geht es innerhalb weniger Minuten durch drei Bundesländer und in den Schatten des Waldes.
Kassel-Wilhelmshöhe, die Eile hat uns wieder. Leute rennen zu den ICEs, wir schlendern zum Regionalexpress. Die Ansage im Zug wirbt für das zauberhafte Wabern, das schöne Treysa, die stolze Universitätsstadt Marburg, sie erinnert an die Maskenpflicht. Überflüssig: Alle tragen Maske.
Mein Großvater reiste sein ganzes Leben nur mit der Eisenbahn. Er schwärmte für die Landschaft, die am Zug »vorbeizieht«. Das klang so, als würde eine Kulisse geschoben, nur um den Opa zu erfreuen. So geht es mir jetzt: Berge, Dörfer, Felder ziehen vorbei, Kulissen einer alten Welt voller Landwirtschaft, Flüsse und Wälder, verfallende Stellwerke und wuchernde Wildblumen an rostigen Gleisen. »Entschleunigung« würde man sagen. Mein eigenes Schnarchen weckt mich aus dem Tiefschlaf. Die Brotdose klappert leise neben mir. Fast 15 Stunden Zugfahrt liegen hinter uns. Ankunft Frankfurt Hauptbahnhof. Ansagen der Verspätungen schneller Züge wecken uns aus der Idylle. Wir stehen einen Moment vor dem blauen Fahrkartenautomaten. Ich suche die Ticketzonen ab. »Wir haben doch das Ticket«, fällt uns ein. So macht das Reisen Spaß.
Rückfahrt. Wir kennen die Regeln, wer schiebt, gehört nicht dazu, Drängeln ist verboten, kreative Sitzplatzsuche ist erlaubt, Fahrräder passen nicht mehr rein. Eine Frau liest ein Buch über Syrien, wir kommen ins Gespräch, Jugendliche reisen mit einem Kasten Bier im Gepäck, sie trinken nicht allein. Das Mitglied eines Sprengstoffteams ist einige Stationen dabei, ich rutsche zur Seite, er ruht sich aus. Die haben Arbeit für mehr als ein Menschenleben. Ein Model ist auf dem Weg zum Wettbewerb. Wenn jetzt jemand »Der Himmel geht über allen auf« anstimmen würde, es wäre wie Kirchentag.
Der Autor ist Pastor, dort, wo andere Urlaub machen, in Ahlbeck auf Usedom.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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