In den Rätseln des Lebens
Suche: Christian Lehnert erkundet Erfahrungen, die das Verstehen übersteigen. Engel, so meint er, sind verwandelnde Momente, die neue Möglichkeiten eröffnen.Erneut ist der Leipziger Dichter rund Pfarrer Christian Lehnert literarisch ausgezogen, um den Wirklichkeiten des Göttlichen auf die Spur zu kommen. Dieses Mal in Form eines verschlungenen Essays mit dem Titel »Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten«, in dem er rätselhafte Erfahrungen mit größeren Wirklichkeiten beschreibt – Erinnerungen an Naturbegegnungen, Bausoldatenerlebnisse oder Ereignisse aus seiner Zeit als Dorfpfarrer. Haben diese merkwürdigen Szenen vielleicht etwas mit dem Wirken unsichtbarer Mächte oder Engel zu tun? Waren es spurenhafte Einfälle des Göttlichen ins Weltliche?
Lehnert möchte nicht mit fertigen Theorien und Begriffen an diese Erfahrungen herantreten und sie sogleich »eingemeinden« in den Bereich des Versteh- und Verkündbaren. Vielmehr geht er wie ein Archäologe vor: er setzt sich den Erfahrungen, Träumen, Verwirrungen, Begegnungen aus, schaut auf Wirkungen und Veränderungen und versucht, sie als »Boten« von etwas Größerem zu sehen und in das Bewusstsein einzufügen.
Eindrücklich beschreibt er etwa den Abstieg mit einem Freund in das tiefe Innere eines Uranschachts in Aue kurz nach der Wende. In der drückenden Tiefe, beim benommenen Blick in das Dunkel eines Stollens, verschwimmt plötzlich die Wirklichkeit des Freundes: »Vor dem verschlossenen Schlund begannen, je länger er starrte, mehr und mehr Bilder zu tanzen, die er immerhin deutlich als seine eigenen erkannte. Aber was war mit den flüchtigen grünen Augen, die aufblitzten und wuchsen und verblaßten, mit dem Thymianduft im atmenden Rachen des Gebirges? Er sah seine Schwester Vera wieder, die er so sehr vermißte.« Doch bevor er sich selbst verlor in der Wirrniss der Eindrücke und des Verschwimmens von Innen und Außen, geschieht eine Wendung: »Er sah ihre Brauen, ihre blonden Wimpern, die grüne Iris der Toten, die sich weitete, als schaute sie ins Dunkel und nicht zu ihm: ›Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt Wahrheit.‹« Am Ende bleibt das Nicht-Verstehen – und doch das Verwandeltsein. Eine neue Möglichkeit hat sich aufgetan, Horizonte haben sich geweitet – momenthaft nur und doch in der Wirkung für immer.
So scheint es nicht um das Verstehen des Glaubens zu gehen, sondern um das Glauben des Glaubens. Um das Sich-Einlassen auf das Göttliche, um sich auch von dorther tragen zu lassen. So beschreibt Lehnert seinen Weg, auf dem er spät zur Kirche fand: »Ich las in der Bibel. Ich empfing die Sakramente, ich verstand, wie noch immer Wahrheit entsteht, indem sie aufruht auf einem grundlosen Vertrauen, ›Unvergessenem‹ (wie der Religionsphilosoph Leopold Ziegler das griechische Wort aletheia übersetzte: das der Lethe, dem Fluß des Vergessens Entkommene), und zu einer ruhigen Schwingung wird, wenn sie geschieht.« Um in diesem Fluss der Wahrheit zu bleiben, empfiehlt Lehnert, die Verhärtung von Ansichten und Überzeugungen zu vermeiden, offen zu sein, sich gewissermaßen tragen zu lassen vom Fluss der Wahrheit – und ab und an auf Zeichen zu warten. Zum Beispiel die an einem Märztag plötzlich mit Krokussen überzogene Wiese vor dem Haus, die voll Werden vibriert. Engel, das ist am Ende deutlich, sind Verwandlungskräfte. Es käme darauf an, sich vor allzu festen Selbstabschließungen zu bewahren und offen zu bleiben für dieses Geschehen.
Christian Lehnert: Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten. Suhrkamp Ver lag 2020, 239 S., 22 Euro.
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