Scherbakowa: Gefährlichste Situation seit 2. Weltkrieg
Die Nikolaikirche lud zum Friedensgebet in Erinnerung an den Herbst 89 ein
Leipzig hat am Sonntag an die entscheidende Montagsdemonstration gegen das DDR-Regime vom 9. Oktober 1989 erinnert. Zum Auftakt lud die Nikolaikirche zu einem Friedensgebet ein. Unter dem Titel „Durst nach Frieden“ kamen geflüchtete Ukrainerinnen zu Wort. Im Anschluss fand die traditionelle „Rede zur Demokratie“ und das Lichtfest mit leuchtenden Installationen in der gesamten Innenstadt von Leipzig statt. Die „Rede zur Demokratie“ hielt in diesem Jahr die russische Menschenrechtsaktivistin und Historikerin Irina Scherbakowa halten.
Irina Scherbakowa sieht Europa nach eigenen Worten in der gefährlichsten Situationen seit dem Zweiten Weltkrieg. Über die Zukunft zu sprechen, sei schwierig, „weil wir es hier mit einer bösartigen Unberechenbarkeit zu tun haben, die den Weltfrieden bedroht“, sagte sie am Sonntagabend in Leipzig mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Das Gedenken in Leipzig stand in diesem Jahr unter dem Titel „Preis der Freiheit“. Sich als Historikerin mit Russland zu beschäftigen bedeute, mit Taten derjenigen konfrontiert zu werden, „die offensichtlich nichts aus der Geschichte gelernt haben“, sagte Scherbakowa. Sie verurteilte den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine scharf. Die von ihr mit initiierte und inzwischen in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation Memorial erhält gemeinsam mit anderen den diesjährigen Friedensnobelpreis.
Die Organisation war Ende der 1980er-Jahre gegründet worden, um die Verbrechen des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion aufzuarbeiten und die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Auf die Auszeichnung von Memorial reagierte Scherbakowa mit gemischten Gefühlen: „Wir empfangen den Preis schweren Herzens“, erklärte sie. Das Ziel, durch Aufarbeitung der Verbrechen des damaligen sowjetischen Staates solche Taten künftig zu verhindern, sei nicht erreicht worden, sagte sie. Während des Friedensgebets in der Nikolaikirche kamen auch geflüchtete Menschen aus der Ukraine zu Wort.
Zu den Gedenkveranstaltungen war auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gekommen. Der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, und Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (beide SPD) entzündeten Kerzen für die große Kerzeninstallation „89“ im Nikolaikirchhof. Die Menschen in Leipzig hätten damals bis nach Erfurt gewirkt, sagte der aus Thüringen stammende Schneider. Mit den Lichtern heute werde ein Zeichen für Demokratie gesetzt, ergänzte er.