Über Mauern springen
Vor 25 Jahren fiel die Mauer. Ein Ostdeutscher und ein Westdeutscher fahren per Fahrrad den einstigen Todesstreifen ab, der sie trennte – jeder Kilometer ist für sie ein Triumph der Hoffnung über die Angst.
Bis vor 25 Jahren wären wir gar nicht hingekommen, ohne dass jemand auf uns geschossen hätte. Mein Freund Micha studierte damals Psychologie in Köln, ich Theologie in Leipzig. Kontrollen, meterhohe Zäune, Signalanlagen und Wachposten hätten mich auf der Ostseite schon Kilometer vor der eigentlichen Grenze verraten, abgefangen und verhaftet.
Von Westen her musste Micha demütigender Kontrollen gewärtig sein. Unser Hass auf diese Grenze war genauso monströs wie ihre monsterhafte Existenz selbst. Heute suchen wir den ehemaligen Grenzverlauf. Für uns beide ist die friedliche Wende einschließlich der Grenzöffnung vor 25 Jahren das wichtigste politische Ereignis im Leben.
Seit ein paar Jahren feiern wir es, indem wir ein Stück des 1380 km langen Grenzverlaufes abfahren. Nicht links und rechts auf asphaltierten Straßen oder gepflegten Waldwegen, sondern auf dem Kolonnenweg. Dort, wo früher die Fahrzeuge der DDR-Grenzer patrouillierten, liegen heute noch die zwei Reihen von Lochplatten für die Fahrspur. 30 cm dicker Beton mit zwei mal acht Löchern drin, verlegt für immer. Zumeist unser einziger Wegweiser.
Es ist eine symbolische, manchmal mystische Erkundung. Der Weg geht oft wild bergauf, steil bergab, querfeldein. Die Anstrengung der Tour deutet uns die Grausamkeit des Grenzregimes an. 20 km Lochplatte zu fahren ist wie 80 km Landstraße. Viele Dörfer auf DDR-Seite waren geschleift worden, man kommt sich oft weitab jeder Zivilisation vor.
Die Natur holt sich das Ihre zurück, die Birken sind schon 25 Jahre hoch. Wildwechsel, seltene Blumen, Orchideen gar. Wir fragen Leute nach dem Weg, kommen ins Gespräch. Wo verlief die Grenze? Hötensleben mit seinen 350 Meter langen originalen Grenz-Anlagen. Der zugewucherte Flecken Jahrsau. Großburschla, das vom schlangenförmigen Grenzverlauf nahezu eingekesselt war. Immer wieder Kreuze am Wegrand. Tafeln berichten von Schicksalen. Die Zeit verschwimmt. Die Grenze war mächtig und die Wunden, die sie schlug, sind wetterfühlig. Eine Frau erzählt uns vom Erhalt ihrer Dorfkirche trotz widrigster Umstände.
Viele Christen in Ost und West empfinden den Fall der Mauer als eindrücklichen Beleg für ihren Glauben, dass Gott Leben und Gemeinschaft will, statt Tod und Trennung. Endlich einmal eine Erfahrung dafür, Gott auf seiner Seite zu haben im Toben der Geschichte! Bibelstellen werden zitiert, wie »Er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft« (Epheser 2, 14). Ein Beweis? Vorsicht! Wir kennen Gottes »Plan« mit der Geschichte nicht. Spekulationen darüber verbieten sich auch angesichts all des Leides, das die Grenze verursachte.
Der Bibel geht es um die Grenzen zu Gott und Jesus Christus, die überwunden werden. Diese Grenzen gehen überall mit uns hin, auch wenn wir die ehemalige innerdeutsche Grenze abfahren und voll Dankbarkeit der tiefen Erfahrung des Psalmbeter nachspüren: »Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen« (Psalm 18, 30).
Energie, sagt man, entsteht auf der Grenze, nicht im Feld. Manchmal muss man »an seine Grenze gehen«, um etwas zu erreichen. Auf dem Kolonnenweg ist uns jeder einzelne Kilometer ein Triumph des Lebens über den Tod, der Hoffnung über die Angst, der Vernunft über die Ideologie. Diese Grenze ist nicht »erledigt«. Man merkt das, wenn man sich ihr aussetzt. Nächstes Jahr fahren wir wieder hin, bezwingen sie wieder ein Stück auf unsere Weise.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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