Nach dem Ende des Weltkrieges vor 70 Jahren wurden Millionen aus ihrer Heimat vertrieben. Elfriede Rick war eine von ihnen – Jahrzehnte mussten sie auch in Kirche und Familie über ihr Leid schweigen.
Die angekokelte Bibel ihrer Großmutter ist das Einzige, was Elfriede Rick aus ihrer ostpreußischen Heimat mitnehmen konnte – heute wohnt sie am Rande von Dresden. ©
Steffen Giersch
In der Nacht, nachdem ihre Tochter zur Welt kam, war ihre Seele wieder auf der Flucht. Sie sah sich an der Wand mit ihrem Säugling im Arm. Aufstellen, Gewehre im Anschlag. Im Traum. Genau wie an jenem 26. Januar 1945, Ostpreußen, mittags, um die 15 Grad minus. Sowjetische Soldaten hatten sie vor einem Stallgiebel zusammengetrieben. Ihre achtjährige Schwester, sagt sie, schrie wie ein Tier. Da ließen die Soldaten ab.
Als gut zwei Jahrzehnte später Elfriede Rick ihr erstes Kind bekam, nahm die Flucht in ihren bösen Träumen noch immer kein Ende. Sie war nahe daran, sich das Leben zu nehmen.
Niemandem konnte sie all die Bilder dieses Winters erzählen: die Pritsche des sowjetischen Lastwagens, auf den der Großvater getrieben wurde und nie wiederkehrte; die Zöpfe, die ihre Mutter ihr flocht, um das 13-jährige Mädchen jünger aussehen zu lassen und vor den Soldaten zu schützen; die toten Säuglinge am Rande der spiegelglatten Straßen, die von Soldaten mit einer Schippe Schnee zugedeckt wurden.
Begraben war auch diese Geschichte der Vertreibung über Jahrzehnte. In Elfriede Rick, in Millionen Deutschen. Kaum einer wollte sie hören. Auch in den Kirchen nicht, selbst in der Familie.
Das Land ihrer Kindheit war ganz flach, sie riecht noch den Geruch der Pferde auf dem Hof der Eltern, fühlt noch ihr Fell, hört noch das lang gezogene »ei« im Platt der Bauern.
Sie spürt noch die Wärme der litauischen Frauen, zu denen sie nach der Vertreibung aus ihrem Elternhaus barfuß betteln gingen und die ihnen Brot gaben. Sie hat auch noch im Ohr, wie sie in einem verplombten Güterzug im April 1948 mit Tränen einstimmte »Nun ade, du mein lieb Heimatland«. Und wie die Leute in einem Oberlausitzer Dorf bei ihrer Ankunft sprachen: »Nimmt das mit den Lumpen denn kein Ende?«
Aber Deutschland war doch selbst Schuld an diesem Elend, hörte Elfriede Rick. Auch in der Kirche, auch in ihrer Familie. In den Dörfern ihrer Kindheit gab es keine Juden. Ihr Onkel hatte von der zerstörten Synagoge in der Kreisstadt erzählt, von Ferne hörte sie den Kanonendonner des Überfalls auf die Sowjetunion. Sie war ein Mädchen. »Wir bekamen eine Schuld aufgeladen, für die wir selber ja nichts können.«
Über zwölf Millionen Deutsche – ein großer Teil evangelisch – wurden nach dem Ende des Weltkrieges aus Mittel- und Osteuropa vertrieben. 4,3 Millionen in die spätere DDR. Die meisten von ihnen leben nicht mehr. Zum Kirchentag der evangelischen Ostpreußen in Sachsen kamen Mitte April gerade 45 Menschen in die Chemnitzer Matthäuskirche.
Elfriede Rick hat diese Kirchentage 1996 ins Leben gerufen. Diese Zeit war wie eine Befreiung für sie. Endlich reden, endlich Gehör finden. Endlich reisen können. Da, wo der Hof ihrer Eltern stand, wuchs Gebüsch. Sie fuhr nie wieder hin.
Dafür stickte sie Paramente für die evangelischen Gemeinden in ihrer alten Heimat und in Litauen, um etwas zurückzugeben für all die Hilfe, die ihr wiederfahren war. Und als sie, die vertriebene Deutsche, im klimatisierten Bus saß und all die russischen Mütterchen sah, die jetzt in ihrer Heimat wohnten und betteln mussten, da taten sie ihr unwahrscheinlich leid.
Die Wand und die Gewehre und der Schrei ihrer kleinen Schwester. Geheilt hat Elfriede Rick erst nach vielen Jahren ein Bibelvers: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« – »Ich habe mich in die Situation dieser russischen Soldaten versetzt«, sagt die heute 83-Jährige in ihrer Wohnung in einem Plattenbaublock am Rande Dresdens, »sie waren auch aufgehetzt und Opfer.« Seitdem kann sie selbst wieder trösten.
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