Ein Wunder, keine Wende
30 Jahre Mauerfall: Der 9. November 1989 sollte als das erinnert werden, was er war: ein Wunder. Doch dieses Geschenk der Freiheit scheint heute wieder in Gefahr zu sein. Ein Debattenbeitrag.
Im Sommer 1989 war ich – seit meiner Ausreise im September 1983 endlich freier Schriftsteller, der ich in der DDR nie sein durfte – mit einigen Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland und Frankreich auf Einladung einer Stiftung in den USA unterwegs. Wegen meiner Herkunft als Experte gehandelt, wurde ich immer wieder gefragt, was das Brodeln und Rumoren da im Osten zu bedeuten habe und wohin es führen möge. Ich hatte wohl das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking vom Juni als Menetekel vor Augen, denn meine unbeholfenen Deutungsversuche mündeten allemal in den Befund: Was immer geschähe, die Sowjetunion würde die DDR niemals friedlich ziehen lassen. Unvorherseh- und Unvorhersagbarkeit sowie Einmaligkeit zählen zu den Wesensmerkmalen eines Wunders, und was sich am 9. November 1989 in Berlin ereignete, erfüllt für meine Begriffe diese Kriterien. Der polnische Freiheitsaktivist, der sich Dawid Warszawski nannte, formulierte lapidar: Wer das Jahr 1989 erlebt habe, besitze nicht das moralische Recht, Pessimist zu sein.
Was mich schon bald befremdete, war der Umstand, dass nicht die Rede vom Wunder sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen einnistete, sondern die verwaschene Vokabel Wende rasch in der Umgangssprache Karriere machte. Einst von Egon Krenz in Umlauf gebracht, unterstellt die Wende, was im Herbst 1989 geschah, sei eine Art Segelmanöver, und bald lasse sich die Richtung wieder ändern und das Schiff zurücksteuern. Nein! Gerade wir Lutherischen, die wir etwas von der Macht und Wucht des Weltmediums Sprache verstehen, sollten hellhörig bleiben und den manipulativen Sprachmanövern der Wendepropagandisten von damals und heute Paroli bieten.
Am Rande von Dresden aufgewachsen, kam ich eher durch biografische Zufälle als durch familiäre Tradition in Berührung mit Kirche und Christentum. Was mit Schülerfreizeiten begann, wurde in der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) Dresden zur prägenden Erfahrung: Die Entdeckung der Bibel als Buch von größter poetischer Schwerkraft. Und als unabschließbare Lebens- und Freiheitslektüre. Und, kaum weniger wichtig für mich: Ich erlebte die ESG als einen Ort, der eine Einübung in elementare demokratische Prozesse ermöglichte. Meinungsfreiheit; Ausdifferenzierung pluralistischer Interessen; an ein Wahlmandat geknüpfte Verantwortung, die ihren Preis hatte.
Dass die Kirche in der DDR, was immer auch über sie zu sagen wäre, ein Ort gewesen ist, an dem Erinnerungen an freiheitliche und demokratische Lebensformen institutionell überdauert haben, rechne ich ihr bis heute als Verdienst an. Am 9. November ereignete sich nicht nur das Wunder von Berlin (1989), es war auch die Nacht, in der endgültig kenntlich wurde, dass der Antisemitismus mordend und brandschatzend zur Staatsräson der Nationalsozialisten gehörte (1938). Mit der Sprache fängt es allemal an. Wer von der Wende spricht, bagatellisiert das Wunder von Berlin.
Heute ist, in anderer politischer Konstellation, abermals bedroht, was die Menschen im Osten Deutschlands vor 30 Jahren friedlich erstritten haben. Spätestens seit der Wahl in Thüringen hat der Begriff Protestwähler seine Unschuld verloren. Wer in freien und geheimen Wahlen den Feinden der offenen Gesellschaft in die Hände spielt, aber für seine Person eine rechte Gesinnung empört von sich weist, handelt unverantwortlich. Der Begriff Protestwähler suggeriert, dieses Wahlverhalten sei als Weck- oder Hilferuf gemeint, als legitime rebellische Provokation. Diese Lesart billigt politische Infantilität und hat nun ausgespielt. Können wir Protestanten in Ost und West uns darauf verständigen, zum 9. November 2019?
Wolfgang Hegewald ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Lexikon des Lebens« (Matthes&Seitz 2017).
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
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