Mensch, bleib Mensch!
Digitales: Das Internet erlebt derzeit einen großen Aufschwung. Seine Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Doch lauert auch eine Gefahr: Dass der Mensch sich selbst verliert. Kann das Intenet gezähmt werden?Die Cyberwelt ist zu unserem Lebensmittelpunkt geworden, der allein darüber entscheidet, ob für uns etwas wirklich existiert oder nicht. Alle benutzen diese Welt, wenige beherrschen sie, kaum einer versteht sie. Entstanden durch die Verschmelzung von Computer- und Internettechnologie, spielt sich die Cyberwelt im Vordergrund ab, bietet allem eine Bühne und zeigt allen ihr Face. Man trägt sie bei sich und oft auch vor sich her wie eine Monstranz, die einem alles zeigt und die man allen zeigt. Der nicht enden wollende Strom an Informationen erschafft so den Menschen, der immer woanders ist und Wichtigeres zu tun hat. Was hinter den Kulissen dieses Theaters der großen Weltentfremdung steckt, bleibt verborgen.
Einerseits bringt die Cyberwelt die alles durchdringende Transparenz, führt ihre Nutzer in ein gläsernes Universum von unvorstellbaren Ausmaßen. Andererseits hält sie sich selbst, als Wunscherfüllungsmaschine, im Hintergrund. Sie führt und verführt in eine Unendlichkeit von Räumen. Und bleibt selbst ein geschlossener Raum ohne Fenster. Das Internet ist unsere tägliche Verstrickung. Das Netz, das uns mit sanftem Nachdruck, aber auch unerbittlich zum Kollektiv zusammenfasst. Gewöhnlich drückt man dies positiver aus: Das Internet bringt die Menschen einander näher, heißt es, eröffnet ihnen einen globalen Marktplatz für Kommunikation und Warenaustausch. Doch diese Menschheitsgemeinschaft, so wünschenswert sie sein mag, hat einen Haken. Beim kommunikativen »Seid umschlungen, Millionen« bleibt nämlich verborgen, dass jeder Mensch, der das Informationsuniversum nutzt, sich zugleich als Teil davon zur weiteren Nutzung anbietet. In einer Form, die sich seiner Kontrolle und seinem Wissen entzieht. In zahlenbasierten Informationen verschlüsselt, wird er selbst verkäuflich. Wodurch Schillers »Seid umschlungen, Millionen« einen weniger erfreulichen Sinn erhält: Für die Betreiber ist das unerschöpfliche Netzwerk eine unerschöpfliche Goldgrube.
Die Cyberwelt bietet sich als universale Dienstleistung an, die so gut wie nichts kostet. Sie präsentiert sich als allgegenwärtige Alternative zur wirklichen Welt. Zu ihrem unwiderstehlichen Angebot gehört, dass man, im Gegensatz zur Alltags- und Berufswelt, immer alles unter Kontrolle zu haben glaubt. Man ruft auf, was einen interessiert, und erhält prompt, was man sich wünscht. Man glaubt, am Steuerhebel seines eigenen Lebens zu sitzen. Und ist doch unmerklich selbst gesteuert: Was einem als ureigenstes Interesse erscheint, wird einem von diesem Wunderland der Wünschbarkeiten selbst nahegelegt. Berauscht von den unablässig wechselnden Horizonten des Cyberspace, ist man sich selbst abhanden gekommen. (…)
Gegen das Internet ist kein Kraut gewachsen. Man kann es nicht ändern. Vor allem kann man nichts an seiner rasanten Ausbreitung ändern. Aber man kann sich selbst ändern. Etwa indem man aufhört, sich als lenkbarer Kunde bedienen zu lassen, und sich stattdessen auf das beschränkt, was man angeblich schon ist, Nutzer. Dann sieht man den Computer als das, was er eigentlich sein sollte: als Werkzeug, das man benutzt, weil es einem hilft, das eigene Leben zu gestalten. Statt sich von ihm das Leben gestalten oder gar übernehmen zu lassen. Das setzt voraus, dass man sein eigenes Interesse von dem der Cyberwelt zu unterscheiden lernt. Hat man erreicht, was man sich vorgenommen hat, kann man das Werkzeug getrost beiseitelegen. Das göttliche Wunder von der Stillung des Sturms kann jeder erleben, wenn er Sturm Sturm sein lässt. Lässt man den Computer in Ruhe, so bemerkt man erstaunt, dass er einen auch in Ruhe lässt.
Auszug aus: Joachim Köhler: Verloren im Cyberspace. Auf dem Weg zur posthumanen Gesellschaft, EVA 2021, 365 S., 22 €.