Ist das den Christen eigentlich bewusst? Dass ich mich als Jüdin ständig rechtfertigen muss, bei jedem Essen, jeder Lesung, jedem Artikel, den ich schreibe? Rechtfertigen für Behauptungen, in denen es um reiche Juden, weltumspannende Netzwerke und bluttrinkende Kindermörder geht? Kein Tag vergeht, an dem ich keinen Kommentar lese, der mit antijudaistischen Termini gespickt ist. Und bestimmt wissen einige Christen um das Unheil des Christentums. Dass 15 Millionen Juden weltweit bis heute darunter leiden müssen, was die steile These des Jesus-Mordes angerichtet hat. Jene, die darum wissen, können meistens aber nur vom eigenen Antijudaismus ablassen, wenn sie das Judentum einfach nur christianisieren. Wenn sie sich erklären, dass Jesus schließlich Jude war, dass das Christentum aus dem Judentum entsprang, ja, dass es aufgrund dieser Quelle so sei wie das Christentum. Die Andersartigkeit, die grundlegende Differenz wird verleugnet. Bis heute.
Es gibt keine christlich-jüdische Kultur, kein christlich-jüdisches Abendland, keine christlich-jüdische Identität. Es gibt Christen. Und es gibt Juden. Und Juden sind im Gegensatz zu Christen so viel mehr als eine Religion. Weniger als die Hälfte der 15 Millionen Juden weltweit würde sich vermutlich als religiös bezeichnen. Ein Großteil definiert sich über ihre 5780 Jahre alte Geschichte, ihre Kultur, ihr Schicksal, ihre Werte. Es ist an der Zeit, den Juden zuzuhören. Ihnen ihr jüdisches Selbstverständnis zu lassen und damit aufzuhören zu glauben, man könne oder müsse als Christ Juden erklären, wie sie sich zu sehen haben. Die Bevormundung, die Vereinnahmung muss ein Ende finden. Jetzt. Sofort! Für immer!
Mirna Funk ist Schriftstellerin und lebt in Berlin und Tel Aviv.