
Als Jugendliche haben sie unter sexuellen Übergriffen kirchlicher Mitarbeiter gelitten. Erst Jahrzehnte später können sie öffentlich darüber sprechen. Und formulieren konkrete Forderungen an die Landeskirche.
Sie leiden unter Depressionen, Schlafstörungen und gestörter Sexualität. Die seelischen und körperlichen Übergriffe können sie nicht mehr abschütteln. Jetzt haben Betroffene sexuellen Missbrauchs in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens von ihren Erlebnissen schonungslos und öffentlich berichtet. Fünf von ihnen, vier Männer und eine Frau, kamen auf der Tagung der evangelischen Landessynode am Samstag in Dresden zu Wort.
Im Mittelpunkt stand der konkrete Fall des 2013 verstorbenen Jugenddiakons Kurt Ströer, der laut den Aussagen von Betroffenen jahrzehntelang Kinder und Jugendliche missbraucht hat. Seine Opfer sprechen von spirituellen Abhängigkeiten, körperlichen Handlungen und einer „kruden Theologie“. Er habe zum Beispiel während eines seelsorgerlichen Gesprächs jungen Männern in die Hose gefasst. Bis heute hätten sie unter den Folgen des Missbrauchs zu leiden.
Der Betroffene Matthias Oberst kritisiert die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens für eine schleppende Aufarbeitung. Es gebe im Fall Ströer zudem keine unabhängige Kommission, die sich mit den Vorwürfen beschäftigt. Auch bleibe die Kirche defensiv. Sein Angebot einer offensiven Recherchearbeit, um weitere Betroffenen zu finden, sei von der Kirchenleitung abgelehnt worden, kritisierte Oberst vor dem Kirchenparlament.
Er habe fast sechs Jahre unter emotionalen und sexuellen Übergriffen gelitten und leide bis heute, sagte er weiter. Ströer sei der „größte Schauspieler und Blender“ gewesen, dem er „gern nie begegnet wäre“.
Auch für einen weiteren Betroffenen, Matthias Uhlig, steht fest: „Die Kirche muss Verantwortung übernehmen“. Für ihn ist wichtig: „Für unsere Heilung brauchen wir Menschen, die uns glauben.“ Betroffene wünschten sich eine gemeinsame Aufarbeitung eines schwierigen Kapitels der Landeskirche. Auch seien Entschädigungszahlungen nochmal zu prüfen.
Laut dem Präsidenten des sächsischen Landeskirchenamtes, Hans-Peter Vollbach, hat die Landeskirche bisher 565.000 Euro an 49 Betroffene gezahlt. Einige der Missbrauchsopfer hatten erst vor wenigen Tagen darüber hinaus Schmerzensgeld gefordert.
Der 1921 geborene Ströer war im damaligen Kirchenbezirk Karl-Marx-Stadt tätig und galt als charismatischer Jugenddiakon. Die sexuellen Übergriffe waren erst 2021 öffentlich bekannt geworden. Die Landeskirche hat nun einen Bericht zur „Theologischen Aufarbeitung des Handelns von Kurt Ströer“ vorgelegt, der von dem Dresdner Theologieprofessor Roland Biewald auf der Synodentagung vorgestellt wurde.
„Ströer habe bei Jugendlichen eine Faszination ausgelöst“, sagte Biewald. Der langjährige Diakon lasse sich keiner Frömmigkeitsrichtung zuordnen. Hinter seiner Evangelisationsarbeit sei aber „ein bestimmtes theologisches Denken“ auszumachen, so Biewald. Einen zwangsläufigen Zusammenhang zu Missbrauchshandlungen gebe es nicht. Möglicherweise habe jedoch seine Theologie Handlungen legitimiert. Missbrauchsopfer werfen dem damaligen Umfeld von Ströer vor, Hinweise zu sexuellen Übergriffen nicht weitergeleitet zu haben.
Auch der im Juni vorgelegte Bericht der unabhängigen Aufarbeitungskommission im Fall der Kirchgemeinde Kühnhaide-Pobershau im Erzgebirge wurde auf der Synodentagung referiert. Betroffene hatten 2018 von Fällen sexualisierter Gewalt in den 1990er Jahren in der Kirchengemeinde berichtet. Die Übergriffe des ehrenamtlichen Kantors gegen die Kinder und Jugendlichen sind verjährt.
Kommissionsmitglied Gregor Mennicken appellierte an die Landeskirche: „Nehmen Sie Geld in die Hand, schaffen Sie Strukturen für Aufarbeitung, kommen Sie ins Handeln, zu einer klaren Haltung.“ Es reiche nicht, Erklärungen der Betroffenheit abzugeben, es brauche eine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Mennicken rief die Landeskirche dazu auf, „proaktiv“ aufzuarbeiten und nicht erst zu reagieren, wenn Betroffene sich melden oder Medien berichten. Jede und jeder in der Kirche könne dazu beitragen, damit das Zeugnis der Betroffenen nicht verhallt. Ein wirksamer Schutz erfordere aber ausreichende, effektive Ressourcen und Personalstellen.
Zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs hatte die sächsische Landeskirche 2020 eine Meldestelle eingerichtet. Bisher wurden laut Landeskirche 54 Betroffene sowie 25 beschuldigte Personen erfasst. Namen weiterer Täter sind nicht bekannt.
Die öffentlichen Tagungen können Sie im Livestream verfolgen unter: www.youtube.de/evlksachsen
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